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#Wo viele einsam einschlafen

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Wo viele einsam einschlafen

Als eine der seltsamsten Eigenarten Deutschlands nahm Madame de Staël den überzeugten Provinzialismus der Intellektuellen wahr, der in so scharfem Gegensatz zum Universalismus etwa der deutschen Philosophie stand. Während Kleinstädter in anderen Ländern voller Sehnsucht nach ihren Hauptstädten, nach Paris oder London schauten, stellte sie bei deutschen Autoren einen ungebrochenen Stolz auf ihre Provinzheimat fest. De Staëls berühmtes Deutschland-Buch erschien 1813. Seitdem hat sich im Land viel verändert, unter anderem auch, dass nur noch wenige Autoren außerhalb Berlins wohnen, denken oder schreiben.

Der 1994 in der sächsischen Oberlausitz geborene Lukas Rietzschel ist eine Ausnahme. Er lebt, denkt und schreibt in der Provinz, in der ostdeutschen Provinz, in Görlitz. Sein erstes Theaterstück „Widerstand“ kam jetzt in Leipzig zur Uraufführung, als ein von Enrico Lübbe engagiert inszenierter Theaterfilm. Eine düstere Tragödie über das Schicksal der ländlichen Fläche. Wo die Busse nicht mehr kommen, die Kneipen eingehen, die Bäckereien schließen, wo Menschen einsam einschlafen und es lange niemand merkt. Ein Stück, das so unverstellt und handfest daherkommt wie die Figuren, die es zeichnet, und wie die Geschichte, die es erzählt: Isabelle, die in Leipzig Ärztin geworden ist, kommt zu Besuch nach Hause, aufs Dorf. Zu „Vati“, der seine gelähmte Ehefrau aufopfernd pflegt. Zweimal die Woche geht Frank, so heißt er, zu Peggy, der Physiotherapeutin, die ihm manchmal auch ein Spiegelei brät.

Abends sitzt er mit Steffen, dem „Systembullen“, in der Kneipe und zieht beim Dart über den Staat her. Schweinesteaks, Grillabenteuer, endlose Bierrunden – das volle Programm und zwischendurch dann auch eine G36 aus Plastik, die man zur Abschreckung an den Innenminister schickt. Das organisiert Basti, der als Lieferant arbeitet und die Dorfbevölkerung mit Amazon-Paketen versorgt, aber heimlich davon träumt, in seinem Keller eine Bar zu eröffnen. Damit nicht alle weggehen, so wie Isabelle, sondern hierbleiben und Kinder kriegen. Am besten mit ihm.

Den Staat erschießen

Es kommt, wie es wirklich vorkommt im Deutschland von heute, nicht nur im Osten: „Vati“ fühlt den inneren Zwang, Widerstand zu leisten, auf sich aufmerksam zu machen, will, dass „die da oben in Panik geraten“. „Die“, das sind die Menschen in den Städten, die sich für wertvoller halten als die auf dem Land, auf die sie herabschauen, weil sie billiges Fleisch essen, in Hobbyräumen stehen und keine Altersvorsorge haben. Der Polizistenfreund besorgt ihm eine Armbrust zur Selbstverteidigung, seine Frau stirbt, er setzt sich ins Auto, um „den Staat zu erschießen“. Rietzschels Stück dauert nur eine knappe Stunde. Im bewährten Stil der short cuts reiht es kurze Dialogszenen aneinander, die alle von der bedrückenden Stimmung des Verlustes durchzogen sind, der Scham, ausgesondert zu sein, und dem daraus erwachsenden Gefühl der Unzulänglichkeit. Rietzschel rechtfertigt nichts von dem, was seine Figuren tun; aber er diffamiert sie auch nicht. Er lässt sie von ihren Nöten sprechen und führt sie nicht vor.

In mancher Hinsicht ist sein Stück eine Hommage an den französischen Autorsoziologen Didier Eribon, der mit „Rückkehr nach Reims“ eine Art Standardwerk autobiographischer Annäherung an die heimatliche Provinz und ihre politischen Unwägbarkeiten geschrieben hat. Beide verbindet ein leichter Zug ins Nostalgische, der sich bei Rietzschel nicht nur im Rotkäppchen-Sekt, der Marx-Spardose und dem „Mutti“-Sagen ausdrückt, sondern auch in den Träumen seiner Figuren zeigt. Der eine will heimisches Eichenholz auf dem Wochenmarkt in Leipzig verkaufen, der andere schwärmt von einer Zeit, als es noch keine Melkmaschinen gab. Wichtiger ist jedoch, dass Rietzschel, anders als viele seiner Generationsgenossen, die Spannung der Provinz aufnimmt und sie in einfachen Worten wiedergibt, ohne sie besserwisserisch mit angelesener Theorie oder Sprachverbesserungen zu konfrontieren. Manch einem wird das zu einfältig, zu naiv sein; aber gerade in der direkten, unmittelbaren Rede liegt hier die Stärke. Nicht als großes Kunstwerk und auch nicht als moralpolitisches Paradebeispiel für Schreibschulen kann „Widerstand“ gelten, aber als überzeugender Versuch, das Drama in seinen Möglichkeiten der politischen Bildung ernst zu nehmen.

Interessant ist darüber hinaus die Ästhetik der Inszenierung. Sowohl Bühne als auch Kostüm, das Auftreten und Ausstrahlen der Figuren sind stark orientiert an der hochgradig artifiziellen Bildsprache von Susanne Kennedy, jener vielleicht wirkmächtigsten Erfinderin einer neuen Theaterästhetik der letzten Jahre. Auch, wenn Kennedy selbst gar nicht viel produziert und sich mittlerweile schon fast wieder vom Theater losgesagt und in die Sphäre der Environments verabschiedet hat, haben ihre Bühnenphantasien der frühen 2010er Jahre bei einer jungen Generation von Theaterleuten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. In Leipzig wird Kennedys Einfluss durch die ihr vertraute Kostümbildnerin Teresa Vergho geltend gemacht. Für den Abend und die Inszenierung ist das ein großes Glück, denn wie profan hätte eine realistische Atmosphäre gewirkt? Erst durch den surreal flirrenden, unwirklich phantastischen Zug bekommt diese Provinzatmosphäre das, was sie in Wirklichkeit vermisst: das Zugeständnis, eine eigene Welt zu sein.

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