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#Überraschende Geschichte der Milchverträglichkeit

„Überraschende Geschichte der Milchverträglichkeit

Bisher galt: Milchzucker verdauen zu können, bot Menschen schlicht Ernährungsvorteile und so verbreitete sich die entsprechende Veranlagung im Verlauf der Geschichte in bestimmten Bevölkerungen. Doch einer Studie zufolge spielten wohl eher zwei andere Selektionsfaktoren die maßgebliche Rolle bei der Verbreitung: Krankheiten und Hungersnöte. Laktose-intolerante Menschen, die Milch konsumierten, waren von diesen Belastungen stärker betroffen und so starben sie eher als Personen mit der erblich verankerten Milchzuckerverträglichkeit, erklären die Forscher.

Bei uns sind die meisten ans Milchtrinken angepasst: Die Mehrheit der erwachsenen Europäer können das beliebte Nahrungsmittel problemlos verdauen, denn sie produzieren das Enzym Laktase in ihrem Darm, das den Milchzucker abbauen kann. Diese Fähigkeit beruht auf der sogenannte Laktasepersistenz – einem genetischen Merkmal, das dazu führt, dass die Enzymproduktion auch über das Säuglingsalter hinaus erhalten bleibt. Weltweit ist das allerdings bei den meisten Menschen nicht der Fall: Zwei Drittel der Erwachsenen können den Milchzucker nicht verwerten und so gelangt er in ihren Dickdarm. In größeren Mengen kann dies dann zu Symptomen der Laktoseintoleranz führen: Blähungen, Durchfall und Krämpfe können auftreten.

Bislang nahm man an, dass die Laktosetoleranz entstanden ist, weil sie dem Menschen erlaubte, mehr Milch und Milchprodukte zu konsumieren. Denn das genetische Merkmal für die Laktasepersistenz hat sich in den letzten 10.000 Jahren mehrfach entwickelt und in verschiedenen milchtrinkenden Bevölkerungsgruppen in Europa, Zentral- und Südasien, dem Nahen Osten und Afrika verbreitet. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Veranlagung wirkt dabei allerdings sehr hoch: „Die genetische Variante der Laktasepersistenz wurde offenbar durch eine Art turbogeladene natürliche Selektion auf eine hohe Frequenz gebracht. Eine solch starke natürliche Selektion ist dabei schwer zu erklären“, sagt Seniorautor Mark Thomas vom University College London. Deshalb haben er und seine Kollegen sich der Frage gewidmet, wie es zu der starken Ausbreitung gekommen sein könnte. “Dazu mussten wir zunächst klären, wo und wann die Menschen Milch konsumiert haben“, sagt Erstautor Richard Evershed von der University of Bristol.

Milchkonsum und Laktosetoleranz auf der Spur

Als Grundlage für ihre Studie entwickelten die Wissenschaftler zunächst eine Datenbank mit fast 7000 organischen Rückständen aus archäologischen Keramikgefäßen. In ihr spiegelt sich wider, dass in der europäischen Vorgeschichte Milch bereits seit den Anfängen der Landwirtschaft vor fast 9000 Jahren in großem Umfang verwendet wurde. Diese Informationen zu prähistorischen Milchverwendung verknüpften die Forscher anschließend mit ihren Untersuchungsergebnissen zur Evolution der Laktasepersistenz. Diese basierten auf Daten aus Untersuchungen alter DNA-Sequenzen, die von mehr als 1700 prähistorischen Individuen stammen. Demnach tauchte die Veranlagung zur Laktasepersistenz erstmals vor etwa 5000 Jahren auf. Vor 3000 Jahren war sie dann bereits in nennenswerter Häufigkeit vorhanden, und heute ist sie besonders in Nordeuropa sehr häufig, geht aus den Auswertungen hervor.

Anschließend wendeten die Forscher ein statistisches Verfahren an, um zu untersuchen, inwieweit Veränderungen im Milchkonsum im Laufe der Zeit die natürliche Selektion für Laktasepersistenz erklären. Konkret bedeutet das: Der Vorteil der Veranlagung musste so groß sein, dass sie Trägern zu deutlich mehr Nachkommen im Vergleich zu nicht laktosetoleranten Menschen verhalfen. Doch wie die Forscher berichten, lässt sich die schnelle Verbreitung der genetischen Besonderheit auf der Grundlage eines Ernährungsvorteils oder durch Beschwerden nicht erklären. Dies ging aus einer Untersuchung von Daten der britischen Biobank hervor, die genetische und medizinische Informationen von mehr als 300.000 lebenden Personen umfasst. Demnach gibt es nur minimale Unterschiede im Milchtrinkverhalten zwischen genetisch Laktase-persistenten und nicht-persistenten Personen. Entscheidend ist, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen, die genetisch gesehen keine Laktasepersistenz aufweisen, keine langfristigen negativen gesundheitlichen Auswirkungen des Milchkonsums verspüren. Diese Ergebnisse stellten damit die seit langem vertretene Ansicht infrage, dass der Milchkonsum grundlegend hinter der Entwicklung der Laktasepersistenz gesteckt hat.

Vorteil bei Krankheit und Hunger

Doch was hat dann diese „turbogeladene natürliche Selektion“ angetrieben? Den Forschern zufolge haben offenbar Kofaktoren die entscheidende Rolle gespielt: „Kurz gesagt war der Milchkonsum in Europa mindestens 9000 Jahre lang weit verbreitet und gesunde Menschen, auch solche, die keine Laktasepersistenz haben, konnten problemlos Milch konsumieren, ohne krank zu werden. Bei Personen, die keine Laktasepersistenz aufweisen, führt der Milchkonsum allerdings zu einer hohen Laktosekonzentration im Darm, die Flüssigkeit in den Dickdarm ziehen kann, was in Verbindung mit Durchfallerkrankungen zu Dehydrierung führen kann“, sagt Co-Autor Davey Smith von der University of Bristol. „Ich vermutete, dass dieser Prozess zu einer hohen Sterblichkeit führen könnte, wenn die Belastung durch Infektionskrankheiten zunimmt, da die Populationsgrößen und -dichten auf ein Niveau ansteigen, bei dem einige Infektionserreger kontinuierlich in ihnen zirkulieren können.“

Thomas hebt auch die mögliche Rolle von prähistorischen Hungersnöten hervor: „Wenn man gesund, aber nicht laktasepersistent ist und viel Milch trinkt, kann man Krämpfe bekommen, vielleicht auch Durchfall und Blähungen. Das ist nicht angenehm, aber auch nicht tödlich. Wenn Sie jedoch stark unterernährt sind und Durchfall haben, dann haben Sie lebensbedrohliche Probleme. Und vielleicht ist das die beschleunigte natürliche Auslese, nach der wir suchen. Wenn ihre Ernten ausfielen, konsumierten prähistorische Menschen eher unfermentierte Milch mit hohem Laktosegehalt – genau dann, wenn sie es nicht tun sollten.“

Um diese Erklärungsansätze zu untermauern, haben die Forscher Hinweise auf vergangene Hungersnöte und die Belastung durch Krankheitserreger in ihre statistischen Methoden integriert. „Die Ergebnisse stützten eindeutig beide Erklärungen – die Laktasepersistenz-Genvariante war einer stärkeren natürlichen Selektion unterworfen, wenn es Anzeichen für größere Hungersnöte und mehr Krankheitserreger gab“, sagt Co-Autor Yoan Diekmann von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

So kommt das Team zu dem Fazit: Im Rahmen von Hunger und der Verbreitung von Durchfallerkrankungen hat der Verzehr von Milch wahrscheinlich zu einem Anstieg der Sterblichkeitsrate geführt, wobei Menschen ohne Laktasepersistenz besonders gefährdet gewesen wären. So starben sie mit höherer Wahrscheinlichkeit vor oder während ihrer reproduktiven Jahre, wodurch der Anteil an Menschen mit Laktasepersistenz in der Bevölkerung deutlich stieg.

Quelle: Johannes Gutenberg-Universität Mainz Originalpublikation: Nature, doi: 10.1038/s41586-022-05010-7

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