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#Helle Seite, dunkle Zeit

Helle Seite, dunkle Zeit

War das Kaiserreich nur ein dunkles und militaristisches Kapitel der deutschen Geschichte? Oder hatte es auch helle Seiten, die lange Zeit unentdeckt blieben, weil sich deutsche Historiker seit der ehemals wegweisenden Monographie Hans-Ulrich Wehlers auf den Autoritarismus und die Kontinuitätslinien bis zum Nationalsozialismus fixierten? Auch wenn die These vom deutschen Sonderweg seit mehr als zwanzig Jahren wissenschaftlich überholt ist, hat die an der Bundeswehr-Universität in München lehrende Historikerin Hedwig Richter mit ihrem Buch „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ eine heftige Kontroverse in der Geschichtswissenschaft ausgelöst, weil sie die Entwicklung des Kaiserreichs zumindest von 1900 an in ein positives Narrativ einbettet: Der Reichstag sei einflussreicher geworden, die Frauenbewegung habe sich herausgebildet und die Sozialdemokratie mit der Politisierung der Massen die Grundlagen für die spätere demokratische Entwicklung gelegt.

Richters Freude an der gern über Twitter geführten Kontroverse mündete in einen gemeinsamen Artikel mit Bernd Ulrich in der Zeit, in dem beide behaupteten, die Sonderwegsthese habe zu einer ausgeprägten Angst der deutschen Politiker vor dem eigenen Volk geführt. Daher ließen sich „jede spürbare Klimapolitik“, eine „zukunftsfähige Migrationspolitik“ und auch andere Zumutungen, etwa ein harter Lockdown, in Deutschland einfach nicht durchsetzen. Dabei macht jede moderne Volkspartei in Europa ihre Politik heute von Stimmungen und der Demoskopie abhängig.

Die Pickelhaube als Metapher für das Kaiserreich

In der Stuttgarter Staatsgalerie trafen auf Einladung der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus nun Hedwig Richter und einer ihrer Antipoden, der Marburger Historiker Eckart Conze, in einer öffentlichen Veranstaltung aufeinander. Thomas Hertfelder, Moderator und Geschäftsführer der Stiftung, begab sich aber nicht auf derartige geschichtspolitische Abwege, sondern blieb streng im Zeitraum von 1870 bis 1918 und konfrontierte Richter und Conze mit einer plakativen Frage: „Beginnen wir mit der Pickelhaube, steht das Kaiserreich für den preußisch-deutschen Militarismus?“

Dazu konnten beide Wissenschaftler viel sagen. Richter argumentierte eher defensiv – vielleicht, weil ihre Bücher von einflussreichen Kollegen wie Andreas Wirsching und einigen Journalisten ungewöhnlich scharf verrissen worden waren. „Niemand sagt, dass das Kaiserreich ein friedlicher demokratischer Nationalstaat war“, sagte Richter und breitete dann ihre Argumente für die hellen Seiten der Epoche aus: Militarismus und Kolonialismus seien internationale Probleme gewesen. Und obwohl die Regierung nicht vom Reichstag abhängig war, habe dieser als Diskussionsort eine wichtige Rolle gespielt. Die Reallöhne seien gestiegen, auf Parteiversammlungen hätten sich lebhafte Diskurse entwickelt, erstmals hätten sich Massenbewegungen artikuliert, ja es sei eine Zivilgesellschaft entstanden. Ein Problem bei Richters Deutung des Kaiserreichs könnte dieser zu moderne Begriff sein. Denn eine Zivilgesellschaft in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie ist wohl nicht zu vergleichen mit einer entstehenden Zivilgesellschaft in einem autoritären Obrigkeitsstaat.

Eckart Conze sprach sich gegen eine Verharmlosung des Kaiserreiches aus, widersprach Richter immer wieder in wesentlichen Punkten und lenkte die Aufmerksamkeit auf die „dunklen Seiten“: Die Pickelhaube könne als Metapher durchaus für das Kaiserreich stehen, das verfassungsgeschichtlich ein autoritärer Nationalstaat gewesen sei. Die mangelnde Parlamentarisierung sei bis in die Schlussphase des Ersten Weltkriegs ein Manko geblieben. Zwar habe es eine Politisierung der Gesellschaft außerhalb des Parlaments gegeben, aber wenn man das schon hervorhebe, dann dürfe man über die nationalistischen Massenorganisationen – etwa den Alldeutschen Verband, den Deutschen Flottenverein oder den Deutschen Wehrverein – nicht schweigen.

Zwei wesentliche Unterschiede auch zu anderen konstitutionellen Monarchien der Zeit machte Conze aus: Die Tradition des staatsbürgerlichen Nationalismus von 1848 sei durch einen ethnischen Nationalismus des Kaiserreichs überformt worden, das unterscheide Deutschland durchaus von anderen Nationalstaaten. Auch die „genozidale Vernichtungsabsicht“ bei der Niederschlagung des Herero- und Nama-Aufstands sei charakteristisch für Deutschland. „Wir können nicht sagen, das Kaiserreich endete 1918, nein, das Kaiserreich wirkte weiter. Es ist kein Vorbote des Nationalsozialismus, aber man muss die Dynamisierung der Entwicklung sehen“, sagte Conze. Nicht verwunderlich war es am Ende der Diskussionsrunde, dass Richter den Nationalismus des Kaiserreiches als eher inkludierend interpretierte und Conze als exkludierend.

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