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#Haben die Modellierer angesichts der dritten Welle versagt?

Haben die Modellierer angesichts der dritten Welle versagt?

Man kommt sich mittlerweile fast etwas blöd vor, wenn man diesen Unterschied immer wieder hervorhebt. Aber es ist einfach nicht dasselbe: Was die Pandemie-Modellierer produzieren, die in die Zukunft gerichteten Kurven des Infektionsgeschehens, sind keine Vorhersagen. Sie sagen nicht, was sein wird. Es sind Szenarien. Sie sagen, was sein könnte — unter bestimmten Annahmen und mit allen, im besten Fall quantifizierten, Unsicherheiten. Momentan ist es mal wieder besonders notwendig, auf diese scheinbare Subtilität hinzuweisen, nun da die dritte Welle gebrochen ist und die Zahlen seit Ende April wieder sinken. Noch im März hatten Modellierer davor gewarnt, dass die dritte Welle die schlimmste werden könnte. Haben sie mit ihrem Pessimismus die Öffentlichkeit genarrt? Sind Modelle der Pandemie letztlich nutzlos?

Diesem Einwand ist erstens mit Verweis auf das altbekannte Präventionsparadox begegnet: Wenn der Warnende mit seiner Warnung erfolgreich ist, wird das, vor dem gewarnt wurde, nicht eintreten. Dieses Nichteintreten beweist allerdings nicht, dass die Warnung ungerechtfertigt war. Zweitens eben mit einer Erklärung der Rolle, die Modelle in dieser Pandemie erfüllen. Angesichts der unvermeidbaren Unsicherheiten, die beim Versuch, zukünftiges Infektionsgeschehen vorherzusagen, auftreten, kann diese Rolle nur das Aufzeigen eines Spektrums möglicher Verläufe sein, die sich zwischen Worst- und Best-Case-Szenario abspielen. Auf der Grundlage dieser Szenarien muss dann eine Risikoabwägung geschehen. Dass dabei oft besonderes Augenmerk auf dem Worst Case liegt, liegt in der Natur dieser Abwägung.

Die Frage, warum nicht eingetreten ist, was die Modelle im März an möglichen Worst-Case-Szenarien produziert haben, ist damit vielleicht weniger interessant als die Frage, warum es bei der Modellierung des Infektionsgeschehens überhaupt so große Unsicherheiten gibt. Sollten die Modelle nicht langsam besser werden? Diese Frage führt auf mindestens zwei faszinierende Aspekte: erstens die Wechselwirkung zwischen den Modellen selbst und dem, was sie studieren; und zweitens das extrem nichtlineare Verhalten des modellierten Systems.

Der erste Punkt wird bereits durch das Präventionsparadox illustriert. Die Veröffentlichung eines pessimistischen Szenarios führt zu einer Verhaltensänderung in der Bevölkerung, die wahrscheinlich bestimmte Annahmen der Modellrechnung selbst außer Kraft setzt. Ein ähnlicher Feedback-Mechanismus beeinträchtigte im vergangenen Jahr das Studium der Saisonalität des Virus: Nachdem Wissenschaftler öffentlich darüber spekuliert hatten, dass das Virus angesichts höherer Temperaturen, feuchterer Luft und stärkerer UV-Strahlung im Sommer einen Nachteil haben würde, verbreiteten Politiker wie etwa Donald Trump, dass Maßnahmen im Sommer nicht mehr nötig sein würden. Das sorglose Verhalten großer Teile der Bevölkerung befeuerte daraufhin die Ausbreitung des Virus und verfälschte damit wiederum die Datenlage für die Wissenschaftler.

Die Frage, wie groß die Saisonalität des Virus wirklich ist, ist auch nach einem Jahr noch nicht vollständig geklärt, weil die Faktoren der Viruseigenschaften, der Verhaltensanpassung und auch die saisonale Variation des menschlichen Immunsystems in ihren Konsequenzen so schwer voneinander zu trennen sind. Modellierer beklagen immer wieder: Könnte man das Verhalten der Bevölkerung zuverlässiger vorhersagen, zöge dies einen riesigen Sprung in der Qualität der Modellberechnungen nach sich.

Der verwandte Punkt der Nicht­linearität wiederum liegt in der ­Komplexität des modellierten Geschehens begründet. Die führt dazu, dass mitunter minimale Ver­änderungen in den Eingangsparametern massive qualitative Verhaltensänderungen des Systems hervorrufen. Ein Beispiel dafür haben österreichische Wissenschaftler im Journal Nature Communications veröffentlicht: Sobald die Zahl der Neuinfektionen so groß wird, dass nicht mehr ausreichend getestet und nachverfolgt werden kann, kommt es plötzlich zu einem explosionsartigen Wachstum der Infektionen. Darauf hatte bereits die Gruppe um Viola Priesemann hingewiesen. Solche Kipppunkte machen Vorhersagen systematisch schwieriger, da die Systeme in bestimmten Situationen keine große Toleranz gegenüber unsicheren Eingangsparametern besitzen. Das heißt: Es gibt Unsicherheiten, die man nicht loswerden wird. Es heißt aber auch: Wer Modelle kritisieren will, sollte als Erstes zu verstehen versuchen, wie sie funktionieren.

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