Nachrichten

#Kunst und Katastrophenkosmetik

Kunst und Katastrophenkosmetik

Er steht auf einer Anhöhe, vor ihm liegt die Stadt im diesigen Tal. Ein Auge kneift er zusammen, mit dem anderen schaut er durch die Linse seiner Kamera. Eine Prozession aus Joggern und Einsatzfahrzeugen zieht vorbei auf einer akkurat geteerten Straße: der olympische Fackellauf. Das frische Weiß der Hausfassaden strahlt. Hinter den Hügeln liegt im Dunst das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Das Klicken des Geigerzählers wird lauter.

Der Fotograf Jun Nakasuji ist einer von fünf Kulturschaffenden, die die japanisch-schweizerische Dokumentarfilmerin Aya Domenig für die Dokumentation „Stille über Fukushima – wie Künstler gegen das Vergessen kämpfen“ begleitet hat. Es ist ein beliebtes Motiv: Ein Land richtet ein Sportgroßereignis aus und lädt die Welt zu sich ein. Man putzt sich heraus, aber die Gäste schauen ein wenig zu genau hin. Die Olympischen Spiele in Tokio wurden schon vor Beginn ausgiebig seziert. Zum einen stehen sie in der Kritik, weil sie trotz Pandemie stattfinden. Auch in Japan steigen die Fallzahlen wieder. Zum anderen trübte der Rücktritt des Chefs des Organisationskomitees Anfang des Jahres die Stimmung. Er hatte sich zuvor über geschwätzige Frauen echauffiert, die Sitzungen unnötig in die Länge zögen. Die Dokumentation rückt ein weiteres Problem ins Bewusstsein der Zuschauer. Die japanische Regierung hat einen Umgang mit der Nuklearkata­strophe von Fukushima gefunden, der aus Sicht vieler Betroffener einer Demokratie unwürdig ist.

Zehn Jahre nachdem es im März 2011 infolge eines Tsunamis zur Katastrophe kam, sollen noch immer 12 000 Menschen auf eine Entschädigung von der Regierung oder der Betreiberfirma Tepco warten, heißt es in dem Film. Bürgerinitiativen, die an eigenen Messstationen höhere Strahlenwerte als offizielle Stellen registrieren, und Bauern, die über monströs-großes Unkraut klagen, wollen, dass alle betroffenen Gebiete gereinigt werden – nicht nur die Spielorte. Die Protagonisten der Dokumentation verarbeiten diese Ängste und Forderungen in ihrer Kunst.

Nakasuji hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Zustand des Sperrgebiets um das Kraftwerk, in dem radioaktives Material Luft und Boden verseucht hat, fotografisch festzuhalten. Seine Bilder sind von makabrer Schönheit: Sie zeigen von Kletterpflanzen überwucherte Snackautomaten und Restaurants, auf deren Tischen noch Geschirr steht. Als Tokio 2013 den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele erhielt, fürchtete er, dass die Regierung versuchen würde, die Katastrophe durch kosmetische Baumaßnahmen vergessen zu machen. Tatsächlich wurde sehr viel Arbeit in die Straßen gesteckt, durch die im März der olympische Fackellauf zog. „Es ist, als ob man die olympischen Fackelläufer durch ein perfekt inszeniertes Filmset laufen lässt“, sagt Nakasuji.

Das Ehepaar Mako und Ken Oshinori lernt der Zuschauer zunächst als Bühnenkünstler kennen. Grell geschminkt und in geblümtem Kleid spielt sie auf dem Akkordeon, während er mit einer vergilbten Fliegerbrille auf dem Kopf Figuren aus Draht formt. Von der Trotteligkeit ihrer Kunst­figuren sollte man sich nicht täuschen lassen. Als Reporter berichten die beiden live von jeder Pressekonferenz, jedem Bürgerforum, jedem Gerichtsverfahren, das mit der Katastrophe und ihren Folgen zu tun hat. Nach eigener Aussage haben sie sich der Wahrheitsfindung und Aufklärung verschrieben, nachdem ihnen die Regierung verboten haben soll, bei Auftritten über die Katastrophe zu sprechen.

Die Stärke von „Stille über Fukushima“ liegt in der Erzählperspektive. Domenig schaut nicht von außen auf Japan, sondern lässt die Menschen vor Ort selbst zu Wort kommen. Gerne hätte man noch gehört, was japanische Politiker, das Internationale Olympische Komitee oder die Sportler zu dem Thema zu sagen haben. Doch die Künstler bleiben mit ihren Statements allein. So wirkt es, als sei weiten Teilen der japanischen Gesellschaft das Schicksal ihrer umgesiedelten Mitmenschen egal. Die Gegenseite bleibt für den Zuschauer ein Phantom. Einzig ein Vertreter der Präfekturverwaltung muss im Baseballstadion von Fukushima die Lanze für die verstrahlten Spiele brechen. „Wir möchten der Welt zeigen, dass sich Fukushima erholt hat und nach vorne schaut“, sagt er.

Erholung ist in diesem Fall relativ, heißt es in der Dokumentation. Die Grenzwerte für Strahlung seien von den Behörden im Nachhinein nach oben korrigiert worden. Die nun in der Region vorherrschenden Werte sehe die internationale Strahlenschutzkommission eigentlich nur in Notsituationen vor. Sie sollen der Strahlung entsprechen, der auch Arbeiter in Atomreaktoren ausgesetzt seien. Die Aktivisten kündigen an, der Regierung einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen. Die Spiele sollen nicht instrumentalisiert werden, um von den Folgen der Katastrophe abzulenken. Dass die internationale Gemeinschaft in den kommenden Wochen auf Japan schaut, wollen sie nutzen, um die Welt an ihrem Kampf gegen das Vergessen teilhaben zu lassen.

Stille über Fukushima – wie Künstler gegen das Vergessen kämpfen, heute um 22.25 Uhr auf 3sat.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!