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#Hat die Bildungsforschung die Bildung kaputtgeforscht?

„Hat die Bildungsforschung die Bildung kaputtgeforscht?“

Bildung befördert nicht nur den gesellschaftlichen Fortschritt, sondern auch den sozialen Aufstieg – so lautet eine Grundüberzeugung unserer Gesellschaftsordnung. Die Soziologie nennt das die „Statusdistributionsfunktion“ von Bildung. Dabei entgeht den Menschen natürlich nicht, dass es auch in der deutschen Mittelstandsgesellschaft große und wachsende soziale Ungleichheit gibt. Aber sie soll als legitim angesehen werden, weil sie das Resultat zunächst gleicher Bildungschancen sei, die individuell je nach Begabung und Leistungswille unterschiedlich genutzt wurden. Deutschland sei eine Meritokratie und Bildung der Schlüssel zum Erfolg.

Um das so zu glauben, müsste man nicht nur die bildungssoziologische Forschung der vergangenen fünfzig Jahre ignorieren. Wenn also Rolf Becker, Sandra Gilgen und Elmar Anhalt in einer aktuellen Studie nach den tatsächlichen Bildungsvorstellungen der Deutschen fragen, ist das auch eine Frage nach der Wirksamkeit soziologischer Forschung auf das Alltagsbewusstsein von Laien. Teilen die Menschen noch das normative Selbstverständnis der Leistungsgesellschaft?

Der Bildungssoziologe Heiner Meulemann (*1944)


Der Bildungssoziologe Heiner Meulemann (*1944)
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Bild: privat

Schon 1982 hatte der Bildungssoziologe Heiner Meulemann festgestellt, dass ausgerechnet die Bildungsexpansion der 70er-Jahre dafür gesorgt hat, dass die Bevölkerung immer kritischer über die Chancengerechtigkeit des Bildungssystems und damit der Sozialordnung selbst urteilte. Die Skepsis über die tatsächliche Gleichheit im Bildungswesen sei von jenen Kohorten ausgegangen, die selbst durch die Expansion der höheren Bildung geprägt wurden. Becker, Gilgen und Anhalt wollen die Studie von Meulemann einer Replikation unterziehen und anhand neuer Daten der ALLBUS-Bevölkerungsumfrage wissen, wie sich die Bildungsvorstellungen der Westdeutschen weiterentwickelt haben. Wird die meritokratische Leistungsidee noch akzeptiert?

Zunächst stellen sie dabei über die Analyse von Meulemann hinausgehend fest, dass Frauen im Unterschied zu Männern in deutlich geringerem Maße die Ansicht vertreten, Bildungschancen seien sozial offen. Aber entscheidend ist ihr Befund, dass, je jünger die Kohorten sind, desto geringer der Anteil der Befragten sei, die noch an diese Offenheit und damit die ungleichheitslegitimierende Funktion der Bildung glauben, gleiche Startchancen zu bieten. Und je größer die Anteile in den jüngeren Geburts­kohorten sind, die an der Bildungs­expansion teilhaben konnten, desto kritischer werden die Bildungschancen in der Kohortenabfolge beurteilt. Trotz objektiv gestiegener Bildungschancen würden diese subjektiv also immer kritischer gesehen. Die jüngeren Kohorten glauben immer weniger daran, dass Bildung der Weg zum Erfolg sei.

Runiöser Realismus

Eigentlich wollen die Autoren nicht spekulieren, aber eine mögliche Interpretation ihrer Befunde liefe darauf hinaus, dass die Beurteilungen nachwachsender Kohorten und in der Bundesrepublik geborener und sozialisierter Geburtsjahrgänge immer realistischer würden. Bildung ist eben auch die Fähigkeit, über die Bildung selbst und ihren Wert reflektieren zu können. Umgekehrt hieße das, nur Ungebildete glauben noch daran, Bildung ermögliche sozialen Aufstieg. Schließlich dürften die Ergebnisse der international vergleichenden Schulleistungsstudien wie etwa PISA der Öffentlichkeit die tatsächliche Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem vor Augen geführt ha­ben, so die Autoren. Zumindest entsprächen nun die Chancenbeurteilungen auch in ihrer subjektiven Wahrnehmung sozialwissenschaftlichen Be­funden über die Diskrepanz zwischen gestiegenen Bildungsmöglichkeiten und den immer noch deutlichen sozialen Ungleichheiten von Bildungschancen hierzulande.

Der Realismus der Jüngeren steht im Kontrast zu den Beteuerungen der Bildungspolitik, Bildung sei der beste Weg zum sozialen Aufstieg. Die politisch initiierte Bildungsexpansion sollte im öffentlichen Bewusstsein immer als Erfolg durchgesetzter Chancengleichheit verstanden werden. Einwände dagegen wie die ganz unterschiedliche Entwicklung relativer Bildungschancen in den einzelnen Bevölkerungsgruppen wurden zwar nicht verleugnet, aber auch nicht zum Anlass genommen, die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems als Aufstiegsleiter grundsätzlich infrage zu stellen. Hat die Bildungsforschung die Bildung in dieser Hinsicht kaputtgeforscht? Hat die mediale Dauerkritik an Schule und akademischer Bildung einen Realismus erzeugt, der den Angehörigen dieser jüngsten Kohorten einflüstert, Anstrengung lohne sich doch gar nicht mehr, wenn man von unten kommt?

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