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#Interview: EU-Währungskommissar Gentiloni fordert von Ampel Debatte über neue EU-Schuldenregeln

Interview: EU-Währungskommissar Gentiloni fordert von Ampel Debatte über neue EU-Schuldenregeln



EU-Währungskommissar und Italiens Ex-Ministerpräsident Paolo Gentiloni fordert eine Reform der europäischen Schuldenregeln wegen der Last der Coronakrise.

EU-Währungskommissar Paolo Gentiloni hat die künftige deutsche Bundesregierung angesichts der wirtschaftlichen Belastungen der Coronakrise zu einer Debatte um eine Reform der europäische Schuldenregeln aufgefordert. Die hohe Staatsverschuldung der Euro-Staaten könnten durch die wirtschaftlichen Corona-Folgen nur sehr langsam abgebaut werden, ohne eine wirtschaftliche Erholung zu gefährden. Der Währungskommissar erklärt im Interview mit unserer Redaktion, dass die Eurostaaten im Gesamtdurchschnitt weit von der derzeit gültigen Schuldenobergrenze von 60 Prozent entfern sind.

Die vierte Corona-Welle trifft viele Länder in der EU besonders schwer. Viele Staaten verschärfen ihre Maßnahmen. Droht Europa international nicht nur im Gesundheitsbereich sondern auch wirtschaftlicher Schaden?

Paolo Gentiloni: In der Tat beobachten wir seit Wochen ein steigendes Infektionsniveau in Europa, weshalb einzelne Mitgliedstaaten neue Restriktionen verhängt haben. Im Moment aber kommt es nicht zu Lockdowns, die vergleichbar wären zu jenen, die wir letztes Jahr erlebt haben. Wir sollten auf keinen Fall das Problem unterschätzen, aber auch nicht die Botschaft aussenden, dass wir ähnliche wirtschaftliche Folgen erleben könnten wie im vergangenen Winter-Lockdown. Erstens wegen der Impfungen, sie mildern überall die Auswirkung dieser neuen Welle von Infektionen, auch wenn sich die Impfrate in den europäischen Ländern unterscheidet. Der zweite Grund ist, dass unsere Wirtschaften durch unsere Erfahrungen besser an die Pandemie angepasst sind.

Sie scheinen sich nicht allzu große Sorgen zu machen.

Gentiloni: Wir müssen die Situation sehr genau beobachten. Falls die Beschränkungen weitergehen, wird das einen Effekt haben. Aber es wird nicht zu einem Desaster wie im letzten Jahr kommen. Das ist unsere Einschätzung, die nicht nur auf Hoffnung basiert, sondern auf der Impf- und Hospitalisierungsrate und der relativ geringeren Zahl der Todesfälle.

Trotzdem verdüstern sich die Aussichten, insbesondere in Deutschland ist die Stimmung schlecht. Es herrschen Lockdown-Ängste und Unternehmen leiden unter Lieferengpässen. Befürchten Sie, dass die Probleme in der größten Wirtschaft der EU die gesamtwirtschaftliche Erholung der Staatengemeinschaft gefährden könnte?

Gentiloni: Die europäische Wirtschaft braucht eine gesunde deutsche Wirtschaft. Unserer Einschätzung zufolge könnte es kurzfristig zu Problemen kommen, ausgelöst durch die steigenden Infektionszahlen und die Lieferkettenprobleme. Aber das Wachstum wird unserer Prognose nach mittelfristig wieder stark an Fahrt aufnehmen. Deshalb bin ich ganz zuversichtlich, dass die Schwierigkeiten überwunden werden.

Sie fordern eine Reform der EU-Schuldenregeln. Bislang stand Deutschland bei diesem Thema auf der Bremse. Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung?

Gentiloni: Die Rolle der deutschen Regierung wird sehr wichtig sein. Ich erwarte das Bewusstsein, dass es notwendig ist, einen Konsens zu erreichen, damit die Haushaltsregeln realistisch sind. Wir wissen alle, welch hohe Verschuldungsstände wir haben und wie schwer die Vorgaben im letzten Jahrzehnt umzusetzen waren, die uns zur Schuldenreduzierung zur Verfügung stehen. Es wird jetzt noch schwieriger. Wenn wir gemeinsame und durchsetzbare Vorschriften haben wollen, müssen wir eine Einigung über realistische Schuldenregeln und über die Unterstützung öffentlicher Investitionen erzielen. Hier gibt es gute Nachrichten: Die öffentlichen Investitionen werden in den Jahren 2022 und 2023 zunehmen. Das genaue Gegenteil war nach der Finanzkrise der Fall. Sieben Jahre lang gingen sie zurück. Das jetzige Wachstum hängt natürlich mit dem Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ und EU-Förderungen zusammen. Wenn wir uns die mittel- und langfristigen Herausforderungen für den Klimawandel und andere strategische Fragen der Wettbewerbsfähigkeit für Europa ansehen, wissen wir, dass wir öffentliche Investitionen fördern müssen. Ich bin zuversichtlich, dass Deutschland in dieser Diskussion, die zwar schwierig ist, aber unter den Mitgliedstaaten in einer guten Atmosphäre begonnen hat, einen positiven Beitrag leisten wird. Es gibt zwar keine Einigkeit über die Lösungen, aber es herrscht ein allgemeines Verständnis für die Probleme, denen wir uns stellen müssen. Das ist schon mal was.

Der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz hat den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt in der Vergangenheit als flexibel genug bezeichnet und auch der gerade präsentierte Koalitionsvertrag stellt keine Reform der Schuldenregeln in Aussicht. Vielmehr klingt es so, als sollte bei den EU-Haushaltsregeln im Großen und Ganzen alles so bleiben, wie es ist. Wie wollen Sie Deutschland überzeugen?

Gentiloni: Ich habe gesehen, wie Olaf Scholz in den letzten Jahren eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, Lösungen zu finden, Vereinbarungen zu treffen, Kompromisse zu erzielen. Ich muss sagen, dass wir in diesen letzten zwei Jahren auf der europäischen Seite sehr erfolgreich waren bei der Koordinierung wirtschaftlicher Maßnahmen. Aufgrund dieser Erfahrung bin ich zuversichtlich, dass uns eine Konsensbildung möglich sein wird bei der Frage, wie das Ziel einer Reform erreicht werden kann. Wir sind noch nicht soweit. Ich weiß, dass wir eine Geschichte hinter uns haben, die unterschiedliche Interessen und Situationen widerspiegelt, da gibt es etwa die Gruppe der Sparsamen oder die südlichen Länder. Aber jetzt stehen wir vor der gemeinsamen Aufgabe, realistische Regeln zu finden und strategische Übergänge zu unterstützen. Das erfordert Kompromisse. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Christian Lindner einen sehr konstruktiven Beitrag zu dieser und anderen wichtigen Diskussionen leisten wird, die wir in den kommenden Monaten und Jahren in der Eurogruppe führen werden.

In Deutschland sprechen sich viele gegen eine Aufweichung der europäischen Schuldenregeln aus. Insbesondere beim Blick auf hochverschuldete Länder sind die Sorgen groß. Sie betonten in diesem Zusammenhang die Herausforderung, einen wachstumsfreundlichen Weg des Schuldenabbaus zu ermöglichen. Haben Sie eine Lösung im Kopf, wie dieser Weg aussehen könnte?

Gentiloni: Wir haben eine Situation mit sehr hohen Schuldenzuwächsen, insbesondere in der Eurozone. Nach unseren Schätzungen wird dieser Schuldenstand, der jetzt 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Euroraum ausmacht, in den nächsten Jahren sehr, sehr langsam und nur leicht zurückgehen, sodass wir für 2023 einen Schuldenstand zwischen 97 und 98 Prozent des BIP voraussagen. Wie gehen wir dieses Problem an, ohne Wachstum und Aufschwung zu zerstören? Das nämlich würde keine Schulden abbauen. Wir wissen, dass wir in den Vorjahren trotz niedrigerer Schuldenstände unsere Regeln nicht vollständig umsetzen konnten. Vor allem jene der Reduzierung der Schulden um jährlich ein Zwanzigstel für hochverschuldete Mitgliedstaaten. Das wird bei der jetzigen hohen Verschuldung noch schwieriger umsetzbar. Wir müssen dieses Problem angehen. Der Europäische Fiskalausschuss, der die Kommission berät, schlug zum Beispiel eine Möglichkeit zur Differenzierung der Schuldenziele bei den verschiedenen Mitgliedstaaten vor. Ist das ein möglicher Weg? Wir werden sehen. Eine Lösung wird nicht aus der Tasche eines Kommissars gezaubert, sondern über die Debatte zwischen Interessenvertretern und Mitgliedstaaten erzielt werden.

Damit Gelder aus dem Kernbereich des Corona-Aufbaufonds, fließen, muss jedes Land einen Reform- und Investitionsplan vorlegen. Die EU hat klare Vorgaben über Ziele und Meilensteine gemacht, die die Mitgliedstaaten erfüllen müssen. Wie streng werden Sie darauf achten, dass die Gelder nicht für andere Zwecke genutzt werden und können wir erwarten, dass einige Zahlungen blockiert werden?

Gentiloni: Wenn wir wollen, dass dieses neue Instrument, die gemeinsame Schuldenaufnahme für einen gemeinsamen Zweck, erfolgreich ist, müssen wir sicherstellen, dass unsere Ziele mit Reformen und Investitionen in Ökologisierung, Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit verbunden sind. Was ich Ihnen versichern kann: Die Meilensteine müssen erreicht werden, um Gelder zu erhalten. Natürlich werden wir im kontinuierlichen Austausch mit den Mitgliedstaaten stehen. Wir wollen keine plötzliche Warnung, in der es heißt, ein Land könne nicht liefern. Wir möchten Probleme ansprechen und bei Bedarf unsere Kollegen alarmieren, wenn wir sehen, dass die Ziele und Meilensteine gefährdet sind. Wenn wir diesem Experiment eine Zukunft geben wollen, muss es erfolgreich zu sein.

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