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#Er rettete Leben und verriet es niemandem

„Er rettete Leben und verriet es niemandem“

„Meine Mutter sitzt am Küchentisch. An den Tischbeinen ist die Farbe an einigen Stellen abgeplatzt. Das Weiß ist gelb­stichig geworden. Der Tisch hatte acht Beine, so dass sie in dem eingelassenen Holzrahmen, der eine Emaille-Schüssel verbarg, das benutzte Geschirr verstauen konnte. Man konnte diesen Einsatz vorziehen und zurückschieben. Hier saß sie oft und trank eine Tasse Kaffee. Die Filter­tüten waren von Melitta. Manchmal in Gesellschaft von Waltraud. Waltraud war die beste Schulfreundin von Hannelore, meiner ältesten Schwester, die schon aus dem Haus war und in der Ferne Sprachen studierte. Wenn die beiden miteinander sprachen, sollte ich manchmal hinaus­gehen und ja — spielen. Vielleicht blieb ich hinter der angelehnten Tür stehen oder saß auf dem Boden im Flur. Es muss an einem dieser Tage gewesen sein, dass ich den Namen Fritz Kittel hörte.“

Dies ist der Text Nummer 4 der Ausstellung „Wer war Fritz Kittel? Ein Reichsbahnarbeiter entscheidet sich. Zwei Familien 1933 – 2022“, die vom 15. Februar an im Deutschen Technikmuseum in Berlin zu sehen sein wird. Die Ausstellung ist das Ergebnis einer Zeitreise, die im Jahr 2019 mit einem Telefongespräch begann. Und das ging so: „Sind Sie Herr Kittel?“ „Ja, um was geht es denn? Sie rufen hier schon seit vierzehn Tagen an.“ „Heißen Sie mit Vornamen Fritz?“ „Nein, das war mein Opa. Er lebt nicht mehr.“ „War Ihr Großvater Eisenbahnarbeiter?“ „Ja, aber was soll das?“ „Darf ich Ihnen etwas erzählen?“

Schweigen am anderen Ende der Leitung

Dann erzähle ich dem Enkel von Fritz Kittel am Telefon, dass meine Mutter Hella und meine älteste Schwester Hannelore in Nazideutschland in die „Illegalität“ gehen mussten. Dass sie zusammen mit dem Ehemann als Juden auf der Liste zur De­portation in die Vernichtungslager standen. Dass das Ehepaar Hella und Felix Zacharias, das sich nach dem Krieg scheiden ließ, versuchte, getrennt durchzukommen. Dass meine Mutter sich schließlich an vielen verschiedenen Plätzen in und um Berlin herum versteckt gehalten hatte. Dass Mutter und Tochter bereits eine Odyssee hinter sich hatten, als sie versuchten, in Sorau zu bleiben, dem heute polnischen Żary. Und dass sie dort aufs Neue denunziert wurden.

Und dann sage ich am Telefon: „Fritz Kittel hat die beiden aufgenommen und versteckt. Ich wollte sagen, dass sie überlebt haben und dass das dank seiner Hilfe geschehen ist.“ Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann die erste Reaktion: „Entschuldigung, verstehen Sie, es erzählt einem ja nicht aller Tage jemand so etwas. Da muss ich mich erst mal be­ruhigen. Das muss ich erst mal begreifen.“ Ich sage: „Bitte, regen Sie sich nicht auf. Was er getan ist, ist ja etwas Gutes.“

Fritz Kittel hatte niemandem in seiner Familie davon etwas erzählt, auch nicht nach der Befreiung. Als er Hella und Hannelore Zacharias versteckte und später mit falschen Papieren versorgte, arbeiteten bei der Deutschen Reichsbahn fast eine Million Menschen. Nur sehr wenige von ihnen haben Juden geholfen. Die Deutsche Reichsbahn war vielmehr Teil der nationalsozialistischen Mordmaschinerie. In ganz Europa fuhren die Sonderzüge in die Vernichtungslager. Sechs Millionen Juden wurden umgebracht, Sinti und Roma, politische Gegnerinnen und Gegner, psychisch kranke Menschen und weitere als „unarisch“ definierte Gruppen.

Die Zeiten änderten sich und Menschen, die viel riskierten wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Helmuth James Graf von Moltke und andere wurden als Männer des 20. Julis gewürdigt und zu Identifikationsfiguren für das politische Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich als Bundesrepublik Deutschland demokratisch ge­läutert sah. Vom Leben und der Tat Fritz Kittels hätte die Öffentlichkeit hingegen auch weiterhin nichts erfahren, wenn es nicht dieses Telefonat mit Kittels Enkel gegeben hätte. Zwar hatte ich bei meinen Recherchen über den verschwiegenen Lebensretter meiner Mutter und Schwester Kontakt zur Historischen Sammlung der Deutschen Bahn aufgenommen, aber in den Archiven war nichts zu finden.

Fritz Kittel


Fritz Kittel
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Bild: Dominic Dupont/Deutsche Bahn AG

Es vergingen weitere Monate, bis ich in Begleitung meiner Tochter nach Heringen an der Werra fuhr und Fritz Kittels Tochter besuchte. Wir beschlossen, zusammen nach Żary zu fahren, dorthin, wo die drei Menschen erstmals aufeinandertrafen: Fritz Kittel, Hella und Hannelore Zacharias. Die Deutsche Bahn unterstützte das Vorhaben, die Reise wird vom Filmemacher Gerhard Schick begleitet. Auch Hannelores Sohn Oliver Bradley kommt nach Żary und bringt hinterlassene Do­kumente seiner Mutter mit. Der Reichsbahnausweis unserer Mutter ist dabei.

In einem Video-Interview hat Hannelore als Sechzigjährige berichtet, wie es war, als sie Kittel hieß. In Textstücken erzähle ich, wie diese Suche an den un­bekannten Orten mithilfe hinterlassener Dokumente und Papiere unsere Vorstellung darüber beeinflusst, wie es war oder gewesen sein könnte, und darüber, was wir unter behördlichen Begriffen wie „Schaden an Freiheit“ oder „Schaden an Leben“ nunmehr verstehen. Und was wir daran nicht verstehen. Es ist so, als erzählten die Gegenstände selbst: die Handtasche, die Uhr, die Strickjacke. Von ihnen handeln die Geschichten, sie beschreiben auch, wo wir uns irrten, einer Projektion zu erliegen drohten, die daher stammt, dass der Be­griff von Widerstand so eng mit einem Denken verknüpft ist, das von einer organisierten Gruppe ausgeht und weniger von der Tat und Verantwortung des Einzelnen. Die Ausstellung erinnert an einen wortkargen Mann, der tat, was er für seine Pflicht hielt. Hella und Hannelore Zacharias verdanken ihm ihr Leben.

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