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#Als Thersippos anaerob lief

Als Thersippos anaerob lief

Was der Weg ist, weiß jeder. Aber was ist das Ziel? Beim Marathon ist es: der Weg. Ihn geflogen zu sein, gelaufen, gegangen, sich geschleppt zu haben verursacht Schmerz. Und Stolz. Er führt ins Delirium und ins Glück. Das ist Hunderte, Tausende Male beschrieben worden, und jeder Autor, der den großen Kampf mit der Distanz, der Zeit und vor allem seinem Geist und seinem Körper gewonnen hat, spürt eine eigene Dringlichkeit, die Welt an diesen Erlebnis teilhaben zu lassen. Wirklich wahr: Charmanter als ein Finisher-Trikot ist ein Marathon-Text allemal. Wenn auch länger.

Der Sammelband „. . . auf den letzten Metern – Momente des Zieleinlaufs“ aus dem arete-Verlag gibt fünfzig dieser Stimmen ein Forum, nun ja: 48; zwei dürfen sich zwei Mal äußern. Nicht selten scheint es, als liefen die Autoren zu keinem anderen Zweck, als ihre Heldentaten mitteilen zu dürfen. Der vor drei Jahren in Berlin verstorbene Schriftsteller Günter Herburger, buchstäblich ein Vorläufer der Marathon-Literatur, steht mit einer Passage aus seinem Werk „Lauf und Wahn“ stellvertretend für die Mischung aus Überschwang und Kauzigkeit, aus mitreißender Begeisterung und eigenwilliger Weltsicht, die dieses spezielle Genre prägt: „Mein Sohn, ein mehrsprachiger Automechaniker mit Abitur, geleitete mich nach dem Ziel zum marmornen Eingang ins Brillengeschäft, wo ich mich umziehen konnte. Aus dem Hypothalamus regnet es in Opiate, ein Gefühl, als schwebte ich durch mehrere Königreiche, deren hauchdünne Kulissen sich unablässig wiederholten. (3:04:42)“

Der Triumph über den inneren Schweinehund

Ja, auch die Zeit muss genannt sein. Die Uhr zu stoppen ist ein Ziel des Laufens. Doch zuvor und überwölbend geht es in den Texten um die Transformation zum Athleten, die Metamorphose zu einem guten Beispiel für den Rest der Welt, die hier selbst einem Drogensüchtigen gelingt. Das führt, immer wieder, zum Triumph über den inneren Schweinehund. Was soll man, wenn einem dies widerfährt, anderes tun, als davon berichten?

Marathonläufer Joschka Fischer: Immer noch nicht eingebrochen


Marathonläufer Joschka Fischer: Immer noch nicht eingebrochen
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Bild: dpa

Manfred Steffny, schreibender Läufer und laufender Berichterstatter, hat 1993 die Selbstironie ins Genre eingeführt, wo sie seitdem als Spurenelement existiert und sich in Figuren wie Achim Achilles niederschlägt; auch dieser ist in diesem Band vertreten. Steffny schlüpfte in die Rolle des allerersten Marathonläufers, der rannte, weil er wirklich etwas zu verkünden hatte: den Sieg der Athener über die Perser anno 490 vor Christus. Als Siegesbote Thersippos konstatiert er: „Aber ich war doch ziemlich erschöpft, weil ich die letzten Kilometer anaerob gelaufen war, und ließ mich auf den Stufen nieder.“ Keine Rede vom tödlichen Zusammenbruch, der fälschlicherweise überliefert ist.

Statt zu sterben, verschwindet der Held mit einer jungen Schönen, die ihm den Schweiß von der Stirn wischte. Von seiner Wolke beobachtet er, als er 2400 Jahre später schließlich doch nicht mehr unter den Lebenden weilt, seinen griechischen Landsmann Spiridon Louis beim Olympiasieg 1896. Und schon ist die erste Lauf-Zeitschrift Deutschlands, die von Herausgeber und Chefredakteur Steffny, nach diesem benannt.

„Ich bin kein Mensch, nur eine Maschine“

Die Heroen des Lauf-Booms, der in den sechziger und siebziger Jahren noch auf dünnen Sohlen in Bewegung kam, sind vertreten, Prominente und Stars von Alexander Weber über Werner Sonntag, die blinde Läuferin Marla Runyan und Kathrine Switzer, die 1967 erste Teilnehmerin des Boston-Marathons war – illegal und angefeindet. Dieter Baumann, Volker Schlöndorff und Joschka Fischer.

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Der grüne Außenminister wird bei seinem ersten Marathon von einem austrainierten Reporter begleitet, der seiner Redaktion regelmäßig am Handy versichern muss, dass Fischer immer noch nicht eingebrochen sei. Und Haruki Murakami. Der Romancier redet sich ein, um einen Hundert-Kilometer-Lauf durchzustehen: „Ich bin kein Mensch, nur eine Maschine. Deshalb spüre ich überhaupt nichts. Bewege mich nur vorwärts.“ Bis Waldemar Cierpinski und Heinz Florian Oertel, denen es zu verdanken ist, dass eine Generation des Jahrgangs 1976 mit dem Namen Waldemar durchs Leben geht. Oder läuft.

Man darf nicht verschweigen, dass alle Klischees versammelt sind: die Mauer, gegen die man zu laufen scheint. Der Mann mit dem Hammer. Die Endorphine. Die Glückshormone. Man glaubt nicht, wie viele innere Schweinehunde über die Laufstrecken dieser Welt streunen.

Die Texte sind gekürzt, der Eindruck ist verdichtet, das Erlebnis komprimiert. Das ist die Leistung des Sportwissenschaftlers und Läufers, des Literaturkenners und Herausgebers Detlef Kuhlmann. Am vergangenen Wochenende versammelte er einen Teil seiner Autoren zum Literatur-Marathon in Berlin. Am kommenden Sonntag findet in Berlin, nach einem Jahr pandemiebedingter Pause, wieder der größte Marathon Zentraleuropas statt. 30.000 Teilnehmer werden erwartet, von denen jeder hinterher etwas zu erzählen und viele etwas zu schreiben haben werden.

Berlin-Marathon: Zehntausende einzelne Geschichte des Laufens und Leidens


Berlin-Marathon: Zehntausende einzelne Geschichte des Laufens und Leidens
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Bild: dpa

Aus der Sammlung ragen Reportagen über Emil Zatopeks ersten Olympiasieg heraus, die 10.000 Meter von London 1948, und über den ersten Olympiasieg des Äthiopiers Abebe Bikila im Marathon, 1960 in Rom. Sie sind kleine Bernsteine: Eindrücke im Moment gefangen. Keine Andeutung von den folgenden Leistungen des Läufers aus Prag, der in seinen Bewegungen zeigte, wie anstrengend Laufen sein kann. Kein Hinweis auf seine drei Olympiasiege von Helsinki 1952. Keine Andeutung, wie er mit Haltung Widerstand leistete gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Kein Schimmer auch von der historischen Bedeutung des Sieges von Bikila. Barfuß rannte er vorneweg, und wie wir wissen, folgte ihm ein Kontinent. Für afrikanische Läufer übrigens ist nicht der Weg das Ziel. Sondern das Ziel.

Besprochenes Buch: Kuhlmann, Detlef: “… auf den letzten Metern – Momente des Zieleinlaufs. Eine Anthologie“. Paperback, 220 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-96423-058-4

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