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#Cal Flyns Buch „Verlassene Orte“

Auf dem Weg ins Staubzeitalter: Cal Flyn besichtigt geschundene Orte, an denen kaum noch Menschen leben. Tiere und Pflanzen allerdings können dort häufig gut zurechtkommen. Was folgt daraus?

Wann gilt ein Ort als verlassen? Oder als wild? Wenn wirklich niemand mehr dort wohnt? Oder wenn es auch keine menschlichen Spuren mehr gibt? Diese Fragen stellt die schottische Essayistin Cal Flyn in ihrem Buch „Verlassene Orte“, um sie anschließend aus einer überraschenden Perspektive zu betrachten.

Zwölf verschiedene Orte hat sie für ihre Recherche bereist, Orte, die gemeinhin als verwaist gelten, obwohl einige von ihnen – sogar Tschernobyl – weiterhin spärlich bewohnt sind. Sie erkundete Landstriche, aus denen die Menschen wegen Kriegen oder Katastrophen fliehen mussten, sodass sie von der Natur langsam zurückerobert werden können. Und sie besuchte ehemalige Industriestandorte wie Detroit, die nach ihrer Blütezeit mehr Ruinen als Städten gleichen. Dabei zeigt sich, warum die Frage nach der Wildnis so schwer zu beantworten ist.

Nehmen wir zum Beispiel Swona, eine kleine Insel vor der Küste Schottlands. In den Siebzigerjahren verließen die letzten Bewohner die Insel, ihre Kühe jedoch blieben und vermehren sich nun seit rund fünfzig Jahren. Sind sie deshalb „wild“? Oder ist das der falsche Begriff für ein Tier, dessen jahrtausendelange Domestizierung sich inzwischen in seine DNA eingeschrieben hat? Sollte man möglicherweise die Frage gar nicht stellen, weil allein unsere Sehnsucht nach dem Wilden, dem Ursprünglichen schon Teil des Problems ist?

Die größte Biodiversität pro Quadratmeter

Flyn hat dazu eine klare Position. Ihre Geschichten „handeln von Erneuerung, nicht von Wiederherstellung“. Sie glaubt, dass jeder menschliche Eingriff, und sei er, wie der Kampf gegen invasive Arten oder der Versuch, andere menschengemachte Schäden zu beheben, noch so gut gemeint, letztlich genau das bleibt: ein Eingriff. Der, wenn es schlecht läuft, neuen Schaden anrichtet.

Cal Flyn: „Verlassene Orte“. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt.


Cal Flyn: „Verlassene Orte“. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt.
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Bild: Matthes & Seitz

Denn kaum etwas hat negativere Auswirkungen auf die Natur als die Anwesenheit des Menschen. So gibt es in der Wissenschaft zwar Streit darüber, wie schädlich die Strahlung von Tschernobyl für die Tiere und Pflanzen der Gegend noch immer ist. Dennoch glauben viele Forscher inzwischen: „Obwohl die Strahlung ihnen nicht guttut, wiegen die Vorteile der Abwesenheit des Menschen schwerer als die Schäden.“ Der britische Umweltschützer und Wissenschaftler James Lovelock schlug deshalb sogar vor, Atommüll im Regenwald zu lagern, um ihn, den Regenwald, „vor der Zerstörung durch gierige Investoren zu schützen“.

Der Ort in Großbritannien, an dem man die größte Biodiversität pro Quadratmeter findet, ist kein scheinbar ursprünglich gebliebener Wald oder ein liebevoll angelegter Park, sondern ein ehemaliges Industriegelände. Es sind diese verlassenen, nicht unbedingt ursprünglichen Orte, für die sich Flyn besonders interessiert: gerade deshalb, weil das die meisten anderen Menschen nicht tun und ihnen fern bleiben.

Hoffnung machen, ohne zu verharmlosen

Flyn plädiert für eine neue Sichtweise auf unsere Umgebung, dafür, sich nicht von ästhetischen Vorstellungen einlullen zu lassen: „Eine verlassene Mine, eine Abraumhalde, einen Steinbruch, einen Parkplatz oder ein Ölterminal aufzusuchen und darin das neu entstandene Wunder der Natur zu erkennen ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach. Doch in dieser ökologisch angespannten Zeit lohnt es sich, diesen Blick zu kultivieren.“

Zwar verwandelt sich dieser Sinn für die Wunder von Flora und Fauna zuweilen in Kitsch („Jeder Atemzug, jeder Schluck steckt voller Potential. In einer Handvoll Nichts liegt die Saat für alles“). Doch ist er wegen der zum Teil kuriosen Fakten, die Flyn präsentiert, vor allem lehrreich und erfrischend.

Darin liegt aber auch ein Problem. Denn Flyn bewegt sich auf einem schmalen Grat: Sie will Hoffnung machen, aber nicht verharmlosen. Was nicht einfach ist, wenn sie hervorhebt, selbst an den geschundensten Flecken dieser Erde entstehe neues Leben. Andererseits bekommt Flyn am Saltonsee in Kalifornien (auch hier nicht ohne Pathos) „eine Vorahnung vom Ende der Welt, vom Anbruch des Staubzeitalters“. Das Potential der Natur, sich auch unter den widrigsten Umständen Lebensräume zurückzuerobern, sollte der Autorin zufolge nicht dazu führen, entspannt in die Zukunft zu schauen, sondern mehr Rücksicht walten zu lassen.

Cal Flyn: „Verlassene Orte“. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt. Aus dem Englischen von Milena Adam. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 244 S., Abb., geb., 34,– €.

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