Cannabis: Gekifft wird auf Rezept

Inhaltsverzeichnis
Preisfrage: Was passiert, wenn es für ein und dieselbe Ware, die viele Leute gerne haben wollen, eine komplizierte und eine bequeme Bezugsmöglichkeit gibt? Richtig, die Leute machen es sich bequem.
Das lässt sich gerade hervorragend am Beispiel von Cannabis beobachten, je nach Altersgruppe auch als Hanf oder Bubatz bekannt. Cannabisblüten entfalten eine berauschende Wirkung, wenn sie geraucht oder verdampft werden. Lange war das in Deutschland verboten. Das hat sich geändert. Seit gut einem Jahr gibt es einen recht komplizierten Weg, um legal an Cannabis für den sogenannten Freizeitkonsum zu kommen, fürs Kiffen zum Vergnügen. Und einen sehr bequemen Weg, dasselbe Kraut einzukaufen, wenn es als Heilmittel deklariert ist, fürs Kiffen auf Rezept.
Wer glaubt, dass dafür ein Termin beim Haus- oder Facharzt nötig ist, liegt falsch. Die Frage, ob überhaupt eine Krankheit zu kurieren ist und ob die in der Cannabispflanze enthaltene entkrampfende Substanz THC dafür auch taugt, muss sich niemand ernsthaft stellen lassen. Cannabis-Rezepte sind im Internet mit ein paar Mausklicks zu erhalten. Nicht einmal eine Videosprechstunde ist nötig, ein Onlinefragebogen genügt.
Jeder Willige wird dafür eines der im Internet aufgeführten Behandlungsfelder auswählen können, ohne sich in Gewissensnöte zu begeben. Dazu zählen nämlich nicht nur Schlafstörungen, Stress, Tinnitus, Migräne. Wer es gewitzt anstellt, beruft sich schlicht darauf, dass Cannabis angeblich sogar Alterungsprozesse aufhält. An dieser Krankheit leiden schließlich alle. Noch zwei Klicks, schon sind der bevorzugte Stoff sowie eine der vielen inzwischen auf Cannabis spezialisierten Apotheken ausgewählt, die ihn auf Lager hat. Zwei, drei Tage später klingelt der Paketbote.
Ein paar Mausklicks genügen fürs Cannabis-Rezept
So war das nicht gedacht, als der Bald-nicht-mehr-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Namen der Ampelkoalition vor gut einem Jahr die Cannabislegalisierung im Bundestag verteidigte. Damals wurde hitzig diskutiert, ob es eine gute Idee sei, den Eigenanbau von Hanfpflanzen zu erlauben und ausdrücklich nichtkommerzielle Cannabisclubs ins Leben zu rufen, mit deren Hilfe das vergnügungsmäßige Kiffen in geordnete Bahnen gebracht werden sollte. Die Gegner dieser Lockerung warnten eindringlich davor, das Suchtpotential und die Gefahren des Rauschmittels für die Gesundheit zu bagatellisieren. Lauterbach hingegen formulierte die Hoffnung, auf diese Weise werde sich der Schwarzmarkt austrocknen lassen.
Als viel wirkmächtiger hat sich eine Änderung erwiesen, die damals eher im Vorbeigehen beschlossen wurde: Ärzte dürfen Cannabis, das vorher als Betäubungsmittel eingestuft war und deshalb einer strengen Bürokratie unterlag, seitdem mit einem gewöhnlichen Rezept verordnen. Sofern es sich um Selbstzahler-Rezepte handelt, was Marktteilnehmern zufolge auf die große Mehrheit zutrifft, entfällt eine weitere Prüfung durch die Krankenversicherung.
Rezepte aller Art werden zunehmend nach einer sogenannten Fernbehandlung ausgestellt, oft per Video oder auch per Onlinechat. Das ist ein technischer Fortschritt und in vielen Fällen ein Segen für Patienten und Ärzte; mit Cannabis hat es erst einmal nichts zu tun. Als jedoch die neuen Cannabisregeln auf diese Entwicklung trafen, geschah etwas, was zumindest die Abgeordneten im Bundestag vor einem Jahr kaum im Blick hatten.
Die Menge der ganz offiziell zu medizinischen Zwecken nach Deutschland importierten Cannabisblüten hat sich binnen eines Jahres mehr als verdoppelt, und sie steigt tendenziell stark weiter. Allein von Oktober bis Dezember 2024 wurde fast so viel Medizinalcannabis eingeführt wie im ganzen Jahr 2023 (siehe Grafik). Wenn es so weitergeht, ist für 2025 mit 120 Tonnen oder mehr zu rechnen, viermal so viel wie 2023. Setzt man einen durchschnittlichen Preis von 10 Euro je Gramm an, addiert sich der Wert auf mehr als eine Milliarde Euro.
Die allermeisten füllen nur einen Fragebogen aus
Einer, der diesen Boom nach Kräften antreibt, ist der Hamburger Unternehmer Can Ansay. Der promovierte Jurist hat sich auf digitale Geschäftsmodelle spezialisiert, die gezielt in Regelungslücken im Gesundheitswesen stoßen.
Abstrakt ausgedrückt: Seine Internetplattform vermittelt den Kontakt zu Ärzten, die einem vorab formulierten Anliegen von Patienten, die ihnen persönlich meistens nicht bekannt sind, grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen. Konkret sind auf diesem Weg gegen eine überschaubare Gebühr beispielsweise Verordnungen für Abnehmspritzen und – zum großen Verdruss vieler Arbeitgeber – Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erhältlich. Aber noch viel besser läuft es mit den Cannabisrezepten.

Ansay brüstet sich gegenüber der F.A.S. entwaffnend offen damit, Cannabis auf Rezept für jedermann in Deutschland zugänglich gemacht zu haben. Zwei Tonnen seien allein im März über seine in Malta registrierte Plattform umgeschlagen worden. Damit sieht er sich als Marktführer vor Wettbewerbern wie Canngo, Candoc und Green Medical, die ähnliche Angebote machen.
Cannabis-Unternehmer Ansay legt Wert darauf, dass jedes Rezept von einem leibhaftigen, meistens sogar in Deutschland ansässigen Arzt unterschrieben wird. Und jedem Patienten stehe es frei, anstelle des Fragebogens ein Videogespräch zu vereinbaren. Dafür entscheide sich etwa jeder Zwanzigste.
Ehe es zum Fragebogen oder zum Videotelefonat kommt, wird auf der Website das Sortiment präsentiert, als ginge es um einen Pizzabringdienst. Zur Wahl stehen Sorten mit klingenden Namen wie „Ghost Haze Train“, „Cosmic Dream“ und „First Class Funk“; die Preise reichen derzeit von weniger als 6 bis knapp 14 Euro je Gramm.
So funktioniert die Neukundengewinnung
Diese Beträge gehen an die Apotheken, an Großhändler und Produzenten. Ansay und die mit ihm zusammenarbeitenden Ärzte teilen sich die zusätzlich anfallende Rezeptgebühr. Die Preisgestaltung dafür zielt erkennbar auf Neukundengewinnung ab: Das Erstrezept gibt es gratis, Folgeverordnungen kosten 14,20 Euro. Versandkosten kommen dazu. „Bei uns gehen Tausende Bestellungen am Tag ein, die Kurve geht weiter nach oben“, schwärmt Can Ansay.
Die gut 120 Tonnen importiertes Rezeptcannabis, mit denen für das laufende Jahr zu rechnen ist, entsprechen etwa einem Drittel dessen, was Fachleute vor der Teillegalisierung als den Gesamtverbrauch in Deutschland ansetzten. So ergibt sich ein Jahr nach der Gesetzesänderung eine überraschendes Zwischenergebnis: Der Schwarzmarkt wird, wenn überhaupt, eher von Ärzten und Apothekern ausgetrocknet als von den Cannabisclubs, denen für den Freizeitkonsum eigentlich eine viel prominentere Rolle zugedacht war. Aber erstens bieten die Apotheken eine erheblich größere Auswahl. Und zweitens muss man einen Cannabisclub erst einmal finden, dann auch noch Mitglied werden. Schneller und unverbindlicher gelingt es, mit dem Smartphone an ein Rezept zu kommen.
Ist das schlimm? Kommt drauf an, wen man fragt. Und wie sehr es einen stört, wenn die Kategorien verrutschen. Medizinalcannabis war anfangs äußerst leidgeprüften Schmerzpatienten vorbehalten, denen kein anderes Mittel helfen konnte. Davon kann nun keine Rede mehr sein.
Sowohl die Apothekerkammer Nordrhein als auch die Wettbewerbszentrale haben in erster Instanz erfolgreich gegen Cannabisrezeptvermittler wie Can Ansay geklagt. Dieser verstößt mit seinem Internetauftritt nach Ansicht des Hamburger Landgerichts gegen das Verbot, für verschreibungspflichtige Arzneimittel zu werben. Ansay hat Berufung eingelegt. Er scheut Abmahnungen und langwierige Gerichtsverfahren generell nicht. Es stimme ihn zudem zuversichtlich, sagt er, dass die Richter nur die Ausgestaltung der Website im Detail für unzulässig hielten, nicht aber die Vermittlung an sich.
„Solche Ärzte verkaufen Cannabis zum Freizeitkonsum“
Wer Cannabis auf Rezept bekommen soll und wer nicht, überlässt das Gesetz allein den behandelnden Ärzten. So ist es bei anderen Arzneimitteln auch. Seit eh und je, mit guten Gründen.
Brisant wird auch das erst durch die Kombination mit dem technischen Fortschritt, der es einzelnen Medizinern erlaubt, sehr viel mehr Verordnungen als früher auszustellen, und zwar für Patienten überall im Land. Das ebnet, gerade bei Rezepten für Selbstzahler, den Weg zur Kommerzialisierung, die für verschreibungspflichtige Arzneimittel gerade nicht gewollt ist. Und es höhlt das Vertrauen in die ärztliche Sorgfalt aus.
Es lässt sich freilich nicht nachprüfen, ob für die Plattform-Mediziner im Vordergrund die ehrliche Überzeugung steht, dass Cannabis im Grunde jedem guttut – oder ob es der Gedanke an die eigenen Einkünfte ist. Dass die Plattformen außer im Kleingedruckten durchgängig den Eindruck von Allerwelts-Onlineshops vermitteln, steht indes außer Frage. „Solche Ärzte gehen aus meiner Sicht keiner ärztlichen Tätigkeit mehr nach, sondern verkaufen Cannabis zum Freizeitkonsum“, kritisiert daher Mathias Luderer, der an der Frankfurter Uniklinik den Bereich Suchtmedizin leitet und beharrlich vor den verheerenden gesundheitlichen Folgen des Kiffens warnt. Er berichtet dazu von Erfahrungen aus dem klinischen Alltag und von zahlreichen Studien, denen zufolge Cannabiskonsum sowohl die Selbstmordrate als auch das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfällen, Depressionen und Psychosen deutlich erhöht.
Was also ist zu tun? „Dieser graue Markt muss dringend reguliert werden“, fordert Sven Dreyer, der Chef der Ärztekammer Nordrhein. Darin liegt das Eingeständnis, dass der gegenwärtigen Rezeptschwemme mit den geltenden Cannabisgesetzen, verbunden mit den weitreichenden Freiheitsregeln für die Berufsausübung von Ärzten und der mühsam erstrittenen Fernbehandlungserlaubnis, nicht beizukommen ist. Aus dem Gesundheitsministerium sind dazu, kurz vor dem offiziellen Ende der Ära Lauterbach, nur ein paar müde Allgemeinplätze zu hören.
Nina Warken wird sich darum kümmern müssen, Lauterbachs designierte Nachfolgerin aus der CDU. Gut möglich, dass sie in der SPD dabei auf einigen Widerstand trifft. Im gemeinsamen Koalitionsvertrag steht zu dem Thema nur ein betont unentschlossener Satz: „Im Herbst 2025 führen wir eine ergebnisoffene Evaluierung durch.“
Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.
Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.