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Chmenitz zeigt die Ausstellung „European Realities“: Begeisternde Kunst

Vier Namen: Torsten Jovinge, Carl Grossberg, Ilona Singer-Weinberger, Romans Suta. Vier Herkunftsländer: Schweden, Deutschland, Ungarn, Lettland. Vier Schicksale: Jovinge wurde 1936 im Spanischen Bürgerkrieg als republikanischer Kämpfer in Sevilla exekutiert, Grossberg kam 1940 als Besatzungsoffizier bei einem Autounfall in Frankreich ums Leben, Singer-Weinberger wurde 1944 als Jüdin in Auschwitz ermordet, Suta 1944 nach einem stalinistischen Schauprozess in Tiflis erschossen. Zwei Gemeinsamkeiten: Alle waren Maler, und alle sind sie mit Bildern vertreten in der heute Abend in Chemnitz öffnenden Ausstellung „European Realities“.

Das ist ein Titel, der nicht auf die für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts leider so typischen Lebensläufe dieser vier Künstler verweist. Unter ihm wird vielmehr eine künstlerische Lebenseinstellung subsumiert: der realistische Blick. In Deutschland bekam das Phänomen ein Label: „Neue Sachlichkeit“, benannt nach einer epochemachenden Ausstellung vor hundert Jahren in der Mannheimer Kunsthalle, die dieses Ereignis kürzlich mit einer großartigen Wieder­holungsschau gefeiert hat. Aber wie das Original von 1925 beschränkte sie sich auf hiesige Kunst. Chemnitz erweitert nun den Rahmen: Die anfangs genannten Künstler sind nur vier von vertretenen 190 aus 22 Ländern. Und es ist nicht so, dass die anderen von Deutschland den Realismus hätten lernen müssen.

Aktion statt Reaktion

Die Ausstellung zeigt, wie die Kunst in den Zwanziger- und Dreißigerjahren europaweit auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der politischen Neuordnung des Kontinents reagierte: auf den Zerfall ethnisch vielfältiger Großreiche und die Bildung neuer Nationalstaaten, auf die Folgen eines Weltkriegs und die Verheißungen einer fast überall aufblühenden Regierungsform namens Demokratie. Auch auf Wirtschaftskrisen und Revanchismus. Und auf das künstlerische Erbe der Kriegs- und Vorkriegszeit: auf Kubismus, Expressionismus, Suprematismus, Konstruktivismus mit ihren Verfremdungen des Vertrauten. Der Realismus war dazu die Gegenbewegung, aber er entstand nicht als Zerfallsprozess aus dem kollabierenden alten Europa, sondern mit Blick aufs das neue, vielfältigere. Die Wirklichkeit war ja bizarr und bunt genug.

Gerda Wegeners „In der Hitze des Sommers (Lili)“, gemalt 1924
Gerda Wegeners „In der Hitze des Sommers (Lili)“, gemalt 1924Privatsammlung Dänemark

Da ist etwa Gerda Wegener aus Dänemark, die 1924 ihren Mann porträtierte, unter dem Titel „In der Hitze des Sommers“. Eingeklammert nachgeschoben folgt die Bezeichnung „Lili“, und das Bild zeigt einen dezent inszenierten weiblichen Akt im Sessel. Einar Wegener, der sich als Frau im Körper eines Mannes fühlte, lebte damals privat schon unter dem Namen Lili Elbe; er sollte dann 1930 der Erste sein, an dem eine operative Geschlechtsumwandlung vollzogen wurde, in Berlin im Institut von Magnus Hirschfeld, später noch durch andere Ärzte. Lili Elbe starb 1931 an den Folgen dieser Operationen und ist heute ebenso wenig bekannt wie Gerda Wegener. Aber beider Bild ist unvergesslich.

Makabre nationale Coda

Dieser Zwiespalt – begeisternde Kunst, vergessene Künstler (man spricht nicht umsonst von der Zwischenkriegsgeneration als „verlorener Künstlergeneration“) – ist eine sich wiederholende Erfahrung beim Gang durch das Museum Gunzenhauser, das alle seine vier Stockwerke auf die Präsentation von „European Realities“ mit insgesamt rund dreihundert Arbeiten verwendet. Natürlich sind etliche von denen, die das Haus sonst in seiner Dauerausstellung zu bieten hat, auch hier in Einzelbeispielen präsent: ­Otto Dix vor allem, Christian Schad, Conrad Felixmüller, George Grosz, Rudolf Schlichter. Also schon auch die bekannten Namen der deutschen Neuen Sachlichkeit.

Der niederländische Maler Harmen Meurs widmete sich auf seinem Gemälde „Eisenbahnübergang“ 1929 wartenden Passanten.
Der niederländische Maler Harmen Meurs widmete sich auf seinem Gemälde „Eisenbahnübergang“ 1929 wartenden Passanten.Privatsammlung

Aber ergänzt um faszinierende Bilder etwa von Georg Böhme („Schwägerin“ aus der Neuen Nationalgalerie Berlin, dort noch nie ausgestellt), Käthe Hoch (das Bildnis ihres Freundes Erich Müller-Kamp, gemalt 1929, vier Jahre, bevor die Künstlerin nach einer Hausdurchsuchung und -verwüstung durch die SA starb) oder Lotte B. Prechner, deren Bild „Epoche“ von 1928 mit seinem Überschwang an globalen Zeiteindrücken das vorletzte Werk der Schau bietet, bevor mit Horst Naumanns „Weimarer Fasching“ die makabre nationale Coda folgt. In den Dreißigerjahren kippte der künstlerische Realismus dann in jene idealisierende Darstellungsform, die Nationalsozialisten wie Kommunisten gleichermaßen begeistern sollte, exemplarisch vorgeführt an Gerhard Keils „Turnerinnen“ von 1939.

Wenn mit Ernst Nepos Porträt einer vierköpfigen Musterfamilie das 1929 gemalte Werk eines später federführenden ­österreichischen NS-Kunstfunktionärs neben den malgestisch ähnlichen „Drei Kindern“ (1926) des als „entartet“ gebrandmarkten und trotzdem von Rudolf Heß geschätzten Georg Schrimpf hängt, ist das eine jener Konstellationen, die der Chemnitzer Ausstellung besonderen Reiz verleihen. Die Kuratorin Anja Richter bringt die Bilder bewusst grenzüberschreitend miteinander ins Gespräch, etwa zwei Porträts des Niederländers Harmen Meurs mit einem von Schlichter, eines von Heinrich Maria Davringhausen mit einem von Kiril Tsonev aus Bulgarien oder ein Dix-Mädchenbild mit einem Knabenbildnis von Maria Blanchard aus Spanien.

Selbstbewusst hinter den auch schon malenden Eltern: Veronica Burleighs Selbstporträt, dessen genaues Entstehungsdatum unbekannt ist; man vermutet 1937.
Selbstbewusst hinter den auch schon malenden Eltern: Veronica Burleighs Selbstporträt, dessen genaues Entstehungsdatum unbekannt ist; man vermutet 1937.Brighton & Hove Museums

Thematische Parallelen werden zu räumlichen Nachbarschaften wie bei den Darstellungen von Eisenbahnreisenden, Wissenschaftlern oder Sportlern (exemplarisch nebeneinander hängen Tennisspielerinnen von Marcel Grumaire aus Frankreich und Aleksandra Beļcova aus Lettland). Und bereits zum Auftakt bezaubert ein Saal voller Selbstporträts mit der zeitlich späten Krönung durch ein ebenso witziges wie liebevolles Bild, das die Britin Veronica Burleigh „um 1937“ von sich und ihren Eltern malte, entliehen aus Brighton. Was Anja Richter überall in Europa in Häusern aufgestöbert hat, die als Provinzmuseen gelten, aber erstklassige Kunst besitzen, ist ein Bildungserlebnis ersten Ranges.

Sechs Jahre dauerte die Vorbereitung der Schau, zwischendurch fiel die Entscheidung für Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt 2025. „European Realities“ ist buchstäblich das Schaustück des entsprechenden Programms; anders als dessen Gros geht es weit über den Tellerrand der Stadt hinaus, und noch auf die weitgereistesten Besucher warten Objekte aus ihnen vertrauten Kontexten, die aber unbekannt geblieben sind.

„Arbeiter“ wurde 1937 von Ivan Kos aus Slowenien aquarelliert.
„Arbeiter“ wurde 1937 von Ivan Kos aus Slowenien aquarelliert.Maribor Art Gallery

Einfach zum Schluss noch vier andere Namen, deren Werke solche weiteste Wege nach Chemnitz lohnen: Vilma Kiss aus Ungarn, Martin Nagy aus der Slowakei, Chris Lebeau aus den Niederlanden, Ivan Kos aus Slowenien. Zwei von ihnen wurden alt, von den anderen beiden fiel einer dem Nazi-Terror zum Opfer. Wer mehr wissen will, gehe nach Chemnitz. Da muss man nun hin.

European Realities – Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa. Im Museum Gunzenhauer, Chemnitz; bis zum 10. August. Der ausgezeichnete Katalog, erschienen bei Hirmer, kostet 48 Euro.

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