Claus Leggewies und Daniel Cohn-Bendits Buch „Zurück zur Wirklichkeit“

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Daniel Cohn-Bendit ist achtzig Jahre alt, sein „Freund und Kamerad“ Claus Leggewie fünfundsiebzig. Zeit also, zurückzublicken, aber, wie es sich für die noch immer umtriebigen politischen Interventionisten gehört, mit Blick nach vorne. Der Gefahr, dass ihnen, den „alten weißen Männern“, „mansplaining“ vorgehalten werden könnte, sind sie sich bewusst. Schlimmer wäre für sie ohnehin, man zöge eine Parallele zu Waldorf und Statler auf dem Balkon der Muppets Show oder gar zu den Bayern-Bossen Hoeneß und Rummenigge in der Münchener Allianz-Loge. Das wäre allerdings völlig ungehörig und auch ungerecht, denn sie haben zusammen ein umsichtiges, gehaltvolles und kurzweiliges Buch geschrieben, ein dialogischer Pas de deux mit biographischer Grundmelodie und politischen Motiven.
Ihr Blick zurück nach vorn enthält erstens biographische Geschichten vom Bergeversetzenwollen, zweitens die Mühen der realpolitischen Ebenen, drittens Zeitdiagnosen. Für Jüngere könnten die gegenwärtigen Geschichten von früher die Perlen des Buches sein. Beide Autoren haben lange verdrängte traumatische Familienvergangenheiten zu erzählen. Die Familie Cohn-Bendit war 1933 aus Berlin nach Paris geflohen, floh 1940 erneut unter dramatischen Umständen in die Nähe von Montauban, wo 1945 Dany geboren wurde, „ein Kind der Befreiung, wie Obelix in den Zaubertrank gefallen“, keck und widerstandsfähig, der trotz allem „eine behütete Kindheit“ hatte.
Multikulturelle Angelegenheiten
Claus Leggewies Vater war während des Krieges in Charkiw, in den „Bloodlands“ also. Zu berichten hatte er danach aber lediglich von einem Pferdetritt und Lazarettaufenthalten. 1937 war er dem NS-Lehrerbund und der Partei beigetreten, was allerdings erst nach seinem Tod herauskam. Er trat nach 1945 als „katholisch-konservativer Abendländer“ auf, in frankophober Variante. Sein frankophiler Sohn schalt ihn in seiner radikalen Phase schlicht einen Nazi, was die Sprachlosigkeit nicht beendete.
Der Sohn eines Mitläufers freundete sich also mit dem Sohn einer verfolgten jüdischen Familie an, der sich gerne selbst als „Bastard“ bezeichnet: „Jüdisch ist die für Identitäre unverzeihliche Mischung aus Universalismus und Besonderheit.“ Das war um 1990, als „68“ längst Geschichte und die revolutionäre Ungeduld in reformistische Realpolitik gemündet war. Der eine war in Frankfurt Dezernent des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten, der andere Professor für Politikwissenschaften und einer der Vordenker von „Multikulti“. „We never promised you a rose garden“, sagen sie heute und pochen auf eine Migrationspolitik, die die Augen vor Problemen nicht verschließt, aber die Dramatisierungen und Verzerrungen nicht mitmacht.
Klar, sie waren Glückskinder
Migration ist ein durchgängiges Thema des Buches, ebenso der Klimawandel und die notwendige „große Transformation“ sowie der Krieg, insbesondere der russische gegen die Ukraine und der immerwährende in Israel, Palästina und Nahost. Dazu gehören auch der erinnerungspolitische Nord-Süd-Konflikt und die identitätspolitische Welle, auf der die nicht mehr ganz junge „Neue Rechte“ und die allerjüngste woke Linke reiten. Wer differenzierte, faire und doch dezidierte Argumentationen zu diesen Katastrophen, Krisen und Konjunkturen lesen möchte, wird nicht enttäuscht werden. Die Melange aus Lebenserfahrung, hohem Reflexionsniveau und politisch-öffentlicher Streitlust ist heute nicht mehr selbstverständlich.
Die Bilanz der „Melioristen“ Cohn-Bendit und Leggewie ist gemischt. Klar, sie waren Glückskinder, wissen sie, die in der Zwischenkriegszeit gelebt haben. Früher waren sie großmäulig, heute sind sie nicht kleinmütig. Manchen Makel gestehen sie ein, aber sie gehören doch irgendwie zu den Guten, besonders Dany, den fast alle sympathisch finden. Was bleiben wird? Hoffentlich mehr als Klaus Töpfers gelber Sack, der tatsächlich als realpolitischer Erfolg verbucht wird. „Der historische Kompromiss unserer Zeit verläuft nicht mehr zwischen Linken und Rechten, sondern zwischen den Vorantreibern und den Bremsern der sozialökologischen Wende.“ Gerade sind Habeck und Baerbock abgewählt worden. Zurück zur Wirklichkeit ist noch ein langer Weg.
Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit: „Zurück zur Wirklichkeit“. Eine politische Freundschaft. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2025. 240 S., Abb., geb., 24,– €.
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