#„Das ist wie eine Triage“
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„„Das ist wie eine Triage““
Jeden Tag liest Mohammad Bashir, dass wieder mehr gefährdete Personen aus Afghanistan nach Deutschland ausgeflogen wurden. Und jeden Tag wächst in ihm das Gefühl, von Deutschland im Stich gelassen zu werden. „Deutschland hat 2134 Leute ausgeflogen, und ich habe noch nicht einmal einen Anruf bekommen“, sagt der Mann am Sonntag am Telefon. „Warum priorisieren sie nicht die Leute, die am meisten in Gefahr sind? Warum wird das Reinigungspersonal der Bundeswehr vor mir ausgeflogen?“
Bashir, der eigentlich anders heißt, hat nicht nur eine hohe Position in einer staatlichen deutschen Organisation inne. Er trat auch regelmäßig anstelle seines deutschen Chefs auf, weil der aus Sicherheitsgründen schon seit Jahren kaum noch in den Norden Afghanistans reisen durfte. „Ich habe Deutschland in der Öffentlichkeit vertreten“, sagt Bashir. Er hielt Reden im Namen seines Chefs, die dieser selbst formulierte.
Bei einer im Fernsehen übertragenen Versammlung von Stammesältesten aus Distrikten, die schon damals unter Taliban-Kontrolle standen, sprach Bashir zum Beispiel über Frauenrechte und Rechtsstaatlichkeit, und appellierte an die Stammesältesten, beides in ihren Taliban-Distrikten durchzusetzen. Dass dies eigentlich nicht seine Worte, sondern die seines Chefs waren, der aus Sicherheitsgründen nicht kommen konnte, dürften die meisten Zuhörer wohl überhört haben. Wenn deutsche Millionenprojekte im Norden des Landes eingeweiht wurden, war Bashir es, der den afghanischen Medien Interviews gab. Er ging zu den Treffen mit den Provinzgouverneuren, um neue Projekte zu besprechen. Es gibt unzählige Bilder, die Bashir mit ranghohen Vertretern der gestürzten Regierung zeigen.
„Haben die mich vergessen?“
Am 8. August hat er seine Ausreise beantragt, doch er ist noch immer da. Vor gut einer Woche erhielt Bashir die Zusicherung, auf einer Liste mit Personen hoher Priorität zu stehen. Doch seither ist nichts passiert. Er hat bohrende Fragen im Kopf. „Was für eine Liste ist das? Warum ist meine Zeit noch nicht gekommen? Haben die mich vergessen?“ Am Telefon merkt man ihm die Anspannung und Verzweiflung an. Im Hintergrund sind seine Frau und sein acht Monate alter Sohn zu hören. Jede Minute des Tages wartet Bashir darauf, dass entweder der erlösende Anruf kommt, mit dem er zum Flughafen gerufen wird, oder dass die Taliban gegen seine Tür hämmern. Für diesen Fall hält er sich bereit, sofort sein Handy mit allen sensiblen Daten in ein Wasserrohr zu stopfen. Das Dienstlaptop hat er schon vernichtet.
Bashirs Fall wirft die Frage auf: Nach welchen Kriterien wird entschieden, wer zuerst ausgeflogen wird? Der Krisenstab der Bundesregierung, der solche Entscheidungen trifft, macht dazu aus verständlichen Gründen keine Angaben. Doch auch in den vielen Organisationen, die Namenslisten an das Auswärtige Amt schicken, müssen jetzt harte Entscheidungen über das Schicksal von Mitarbeitern und Projektpartnern getroffen werden. „Das ist wie eine Triage“, sagt die Leiterin einer Organisation. „Wir sind wie Laienrichter, die eine Verantwortung tragen, für die wir nicht ausgebildet sind.“ Dabei gehe es auch um „taktische Erwägungen“. Schreibt man alle Mitarbeiter, auch den Fahrer und den Buchhalter, auf die Liste? Dann sinken die Rettungschancen für jene, die am meisten gefährdet sind. Hinzu komme die Konkurrenz unter den Organisationen, sagt die Leiterin. Sind Übersetzer der Bundeswehr mehr gefährdet als Mitarbeiter der Kreditanstalt für Wiederaufbau? Sind private Hilfsorganisationen weniger anspruchsberechtigt als staatliche?
Rund tausend Hilfegesuche pro Tag
Die Berliner Initiative Luftbrücke Afghanistan bekommt nach eigenen Angaben derzeit rund tausend Hilfegesuche pro Tag, vor allem von Menschenrechtlern, Kulturschaffenden, aber auch von ranghohen Vertretern der gestürzten afghanischen Regierung. Zwanzig Studenten sortieren ehrenamtlich die Anträge vor. Mitinitiator Tilmann Röder spricht Empfehlungen an das Auswärtige Amt aus, welche Personen höchste Priorität haben sollten und für Sonderkontingente in Frage kommen. Der Rechtswissenschaftler von der Freien Universität Berlin hat viele Jahre in Afghanistan gearbeitet. Priorität müssten Personen haben, „von denen man annehmen muss, dass sie in höchster Lebensgefahr sind, wenn sie gefunden werden“, sagt er. Dies gelte für Symbolfiguren des früheren Staates wie Minister sowie ranghohe Mitarbeiter der Justiz, Sicherheitskräfte und des Geheimdienstes, die im Kampf gegen die Taliban besonders exponiert waren.
Bedroht seien auch Personen, die sich besonders sichtbar für Frauen- und Menschenrechte eingesetzt haben oder Gräueltaten der Taliban offen kritisiert haben, sagt Röder. Auch ein offen schwul lebender Mann, der sich islamkritisch geäußert hatte, kam auf die Prioritätsliste. Besonders gefährdet seien außerdem Richter und Staatsanwälte, weil die Taliban Tausende Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen haben, die nun auf Rache sinnen könnten, sagt Röder. Um die Chancen auf Rettung zu erhöhen, reicht er manche Anträge auch direkt an das amerikanische Außenministerium weiter, wo eine ehemalige Kollegin von ihm tätig ist.
Die moralische und psychische Belastung, die mit dieser „Triage“ einhergeht, hat Röder am Montag auf mehrere Schultern verteilt. Diese Aufgabe übernimmt jetzt eine Kommission aus drei Afghanistan-Fachleuten. Für die Betroffenen schließt sich derweil das Zeitfenster. Wenn die amerikanische Regierung nicht noch eine Verlängerung beschließt, enden die Hilfsflüge in gut einer Woche.
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