das Wissenschaftszentrum Berlin diskutiert die Nachwirkung der Documenta

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„Unfug! Quatsch, was Sie da sagen!“ Wenn ein Soziologe wie Heinz Bude so in Rage gerät, muss es um etwas Grundsätzliches gehen. Der derart Gemaßregelte war an diesem Abend Michael Hutter, der ebenso wie Bude gerade eine soziologische Nachbetrachtung zur Documenta 15 und ihrem Antisemitismus-Skandal veröffentlicht hat. Wie ließe sich Kunst, so die Frage ihres Gesprächs am Wissenschaftszentrum Berlin, die in der Gesellschaft stört und die Öffentlichkeit verstören will, wissenschaftlich beobachten und beurteilen? Und welche neuen, nicht zufälligen Aussagen über die Gesellschaft lassen sich an ihr festmachen?
Bude versprach: „Wir können anhand dieser Documenta unsere Gesellschaft jetzt besser verstehen.“ Die Documenta sei ein Glücksfall gewesen, ein im Sinne Benjamins „katastrophischer Schock“, Vorspiel zu der Welt, in der wir uns seit Trump, Ukrainekrieg und dem 7. Oktober 2023 zurechtfinden müssten. Der „perfekte Sturm“ im Kasseler Sommer von 2022 sei aber bereits der Endpunkt des Streits zwischen dem globalen Süden und dem Norden gewesen. In fünf Jahren, versicherte Bude, würde die Kunst gar nicht mehr in diesen Dichotomien denken. Die Zukunft sei eine multipolare Welt, die sich mit solch einfachen Grenzziehungen nicht mehr verstehen lasse.
Die Verhüllung und anschließende Entfernung des Banners der Künstlergruppe Taring Padi wegen dessen antisemitischer Inhalte dagegen nannte Bude nur „dieses kleine Ereignis“. Was machte diesen Eingriff in die Kunstfreiheit so klein im Unterschied zur offensichtlich maximalen Offenbarung über unsere Gesellschaft, die die Documenta für Bude uns bescherte?
Die Latenz des Antisemitismus ist gebrochen
Für Michael Hutter vergegenwärtigte die Documenta die Ausweitung der gesellschaftlichen Kampfzone durch die Einbeziehung des Postkolonialismus. Die Kampfzone, das sei die Auseinandersetzungen entlang der Grenze zwischen antisemitischer Israelfeindlichkeit und einer Israelkritik, die sich als antikolonialistisch legitimiert sieht. Die Documenta habe diese Israelkritik in die deutsche Öffentlichkeit getragen, die darauf mit dem Verhängen des Kunstwerks von Taring Padi mit seinen als antisemitisch verstandenen Bildelementen reagierte.
Bude und Hutter waren sich darin einig, dass das „kommunikative Beschweigen des Antisemitismus“ in Deutschland an ihr Ende gekommen sei. Die Documenta habe gezeigt: Die Latenz des Antisemitismus ist gebrochen. Aber wie kann man darauf reagieren? Durch Eingriffe in die Freiheit der Kunst, wenn diese sich antisemitisch äußert?
Wuchtige Thesen
Man hätte, so darf man Bude und Hutter wohl verstehen, diesen Eingriff in Kassel unterlassen sollen. Man hätte also der Kunst ihre Freiheit lassen sollen, hätte das Banner von Taring Padi der Kritik aussetzen müssen, anstatt zu versuchen, die Kampfzone durch Rückgriff auf das Recht zu befrieden. Mit diesem Versuch ist das Gutachten gemeint, das Anfang 2023 bei dem Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers im Auftrag der Kulturstaatsministerin zu den „Grundrechtlichen Grenzen und grundrechtlichen Schutzgeboten staatlicher Kulturförderung“ bestellt wurde.
Möllers mahnte in seinem Gutachten aber bereits an, dass sich die durch die Documenta 15 aufgeworfenen Fragen nicht durch „große Lösungen auflösen“ lassen. Solche Ideen, mit Mitteln des Rechts „ein für alle Mal mit diskriminierender Kunst fertig zu werden“, passten nicht in den Rahmen des Grundgesetzes. Die Freiheit der Kunst könne auch in Fällen antisemitischer Tendenzen vor staatlichen Zugriffen schützen. Das sei, mahnte Möllers, der „freiheitliche Skandal“ unserer grundgesetzlichen Ordnung.
Die Entfernung des Banners, diesen Eingriff in die Kunstfreiheit, streiften Bude und Hutter aber nur kurz. Er war für sie wohl auch nur eine reflexartige Randerscheinung. Die Zensur des zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alten postkolonialistischen Kunstwerkes habe die Debatte nicht abgekühlt, sondern weiter aufgeheizt. Für Hutter war dieser Eingriff allerdings doch mehr, nämlich das Anzeichen eines „Backlash“ in eine „konservativ-konventionelle Welt“, in der die Kunstfreiheit als Argument nicht mehr zähle. Eben diese Zuspitzung der Ereignisse war es, die Budes Unmut hervorrief. Dabei geizte auch Bude nicht mit wuchtigen Thesen, etwa jener, dass das „ökoemanzipative Projekt“ in Deutschland abgewählt sei. Nur sei das nicht der Beginn einer neuen konservativen Hegemonie, sondern das „Ende der Politik der Antipolitik“. Wir seien mitten dabei, so Bude, „die Autorität der Politik wiederzuentdecken“.
Die alten Hegemonien sind zu Ende
Wenn Heinz Bude Politik sagt, meint er natürlich eigentlich die Gesellschaft. Nicht den Staat, den Markt oder das Recht, sondern die Gesellschaft als die Arena der Konflikte, die in der Politik ausgetragen werden müssen. Die alten Hegemonien der Bundesrepublik, das kommunikative Beschweigen des Antisemitismus, ohne ihn endgültig loszuwerden, das zeige eben diese Documenta, seien zu Ende. Auch Möllers schrieb vergangenes Jahr in einem weiteren Gutachten für die Kulturstaatsministerin von dem „verständlichen politischen und moralischen Gram über die dramatische Zunahme eines offenen Antisemitismus im Kulturbetrieb.“
Aus ihrer emphatischen Hoffnung auf die verbindende Kraft des Konflikts erklärt sich Budes und Hutters Misstrauen gegenüber Versuchen, durch den Ausbau von Rechtspositionen diesem Gram auszuweichen und zivilgesellschaftlich zu klärende Fragen zu entpolitisieren. Man kann sich aber auch über die Zumutung grämen, die in der Logik von Budes und Hutters Haltung liegt, nach der antisemitische Kunst nicht einfach verboten werden sollte, sondern ihre verstörende Wirkung entfalten können soll.
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