#»Den Muskeln fehlt der Sauerstoff«

Das Leitsymptom von Patienten mit schwerem Long Covid und ME/CFS ist die post-exertionelle Malaise, kurz PEM. Sportmediziner Christian Puta erforscht die Mechanismen dahinter.
Herr Professor Puta, warum sind die Muskeln mancher Menschen nach einem überstandenen Infekt nicht mehr belastbar?
Weil die Muskeln nicht mehr genügend Sauerstoff erhalten. Es mehren sich zum einen die Hinweise auf Mikrogerinnsel, die den Blutfluss stören. Noch wichtiger könnten zum anderen beschädigte rote Blutkörperchen sein. Bei gesunden Menschen sind sie glatt geformt und sehen aus wie Weingummis. Bei Patienten nach einer SARS-CoV-2-Infektion sind sie regelrecht ausgefranst. Dann transportieren die Blutkörperchen zwar immer noch Sauerstoff, aber wegen der Deformationen kommen sie nicht mehr überall hin. Hinzu kommt, dass sie den Sauerstoff stärker an sich binden und nicht mehr oder nur in geringem Maße an die Muskeln abgeben.
Über den Interviewpartner
Christian Puta (*1973) ist Professor für Sportmedizin und Gesundheitsförderung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Am Universitätsklinikum Jena leitet er die Forschungsgruppe „BioSig-PEM“, in der sechs Universitäten die biologischen Hintergründe von PEM erforschen.
©Hannes Anger
Inwiefern schadet das den Muskeln?
Der Schaden entsteht indirekt. In allen Zellen befinden sich kleine Kraftwerke, die Mitochondrien. Wenn ein gesunder Muskel beansprucht ist, braucht er etwa 40-mal mehr Blut als in Ruhe. Die Mitochondrien können auf zwei Wegen Energie produzieren, je nach Belastung. Entweder der Muskel ist nur kurz beansprucht, so wie beim Aufstehen, dann laufen die Kraftwerke zunächst ohne Sauerstoff. Oder aber der Muskel ist kontinuierlich belastet, so wie beim Spazierengehen, dann benötigt er Sauerstoff und beispielsweise Zucker als Input, um Energie zu gewinnen.
Ohne Sauerstoff können die Kraftwerke also ihren Treibstoff nicht richtig verbrennen. Was passiert dann?
Die Mitochondrien können ohne Sauerstoff nur etwa sechs Prozent der Energie erzeugen, die mit Sauerstoff möglich wäre. Das heißt erstmal, dass Muskeln dann weniger leisten. Außerdem produzieren die Mitochondrien ohne Sauerstoff mehrere Abfallprodukte, die für den Muskel schädlich sind. Dazu gehört das Salz der Milchsäure, das wieder abgebaut werden muss.
Wie baut der Körper diese Stoffe ab?
Dafür benötigt er ebenfalls die Mitochondrien. Und als Müllabfuhr brauchen diese zwingend Sauerstoff. Fehlt dieser, bleiben Abfallstoffe wie Laktat und Kalzium nach einer starken Belastung im Muskel liegen und schädigen ihn langfristig. Inwiefern unter der Überbelastung auch die Mitochondrien selbst leiden, wissen wir noch nicht genau. Fest steht aber: In diesem Modus funktionieren sie nicht mehr richtig.
Also sind die Mitochondrien vergleichbar mit Hybridautos, die einen kleinen, aber schwachen Elektromotor für die Kurzstrecke haben und einen stärkeren Verbrenner für die Langstrecke. Könnte man salopp sagen: Der Verbrenner ist bei Long-Covid-Patienten kaputt?
Genau. Mit dem schwächeren Elektroantrieb kommen Hybridautos nicht weit, müssen häufiger nachladen, funktionieren dafür aber auf der Kurzstrecke ganz gut. Mit den Mitochondrien ist das ähnlich. Ein Unterschied zum Hybridauto ist, dass unser Körper aus gleich drei Kraftstoffen Energie erzeugen kann: aus Kohlenhydraten, Proteinen und Fett. Energie aus Proteinen ist aber problematisch, weil dadurch Muskeln abgebaut werden. Daran haben wir zu Beginn die schweren Fälle erkannt, weil sie viel Muskelmasse verloren hatten.
Wie kann ich als Betroffener erkennen, ob ich unter PEM leide?
Ihre schnelle Krafterzeugung können Sie mit einem einfachen Experiment überprüfen. Dabei setzen Sie sich auf einen Stuhl und stehen eine Minute lang so schnell es geht auf und setzen sich dann wieder. Dabei erzeugen die Kraftwerke in Ihren Oberschenkeln schnell und ohne Sauerstoff Energie. Dann brennen auch bei fitten Menschen die Muskeln. Manche fühlen sich sogar fünf Minuten lang grippig. Doch nach einer halben Stunde geht es wieder. Auch bei manchen Long-Covid-Patienten läuft der erste Versuch gut. Doch für einen zweiten Durchgang fehlt die Energie.
Warum?
Es fehlt die Regeneration. Denn dafür bräuchte es Sauerstoff, damit die Abfallstoffe abtransportiert werden können. Das funktioniert bei Long-Covid-Patienten aber nicht mehr. Deshalb schmerzen die Muskeln meist schon direkt im Anschluss an die erste Runde und fühlen sich bleiern und entzündet an. Ein erneuter Versuch nach einer halben Stunde ist ausgeschlossen und auch gar nicht empfehlenswert. Überhaupt ist es wichtig, so einen Test nur dann zu versuchen, wenn man sich damit nicht übernimmt.
Die post-exertionelle Malaise tritt oft schubartig und zeitversetzt nach einer Belastung auf. Woher weiß ich, wie viel ich mir zumuten kann?
Das ist in der Tat schwierig. Symptome wie ein starkes Grippegefühl und Schmerzen setzen oft erst nach Stunden oder Tagen ein, nachdem Sie körperlich oder geistig aktiv waren. Am besten achten Sie schon vor einer solchen Belastung auf erste Anzeichen. Ein Indikator dafür ist der Ruhepuls. Wenn Sie den ständig messen und er in der Nacht um 10 bis 15 Schläge höher war als normal, dann sollten Sie am Folgetag lieber kürzertreten und weniger machen. Bei PEM gilt im Zweifelsfall ohnehin die Regel „Stop-Rest-Pace“. Also innehalten, rasten und nur im Rahmen Ihrer Energie aktiv sein.
Warum ist der Ruhepuls ein wichtiger Indikator?
Ein hoher Ruhepuls zeigt an, dass unser Körper stark beschäftigt ist, beispielsweise mit einer Entzündung. Die kann bei einer PEM-Episode durch die muskulären Stoffwechselprodukte begünstigt werden. Bei gesunden Muskeln sehen wir nach dem Sport übrigens ähnliche Reaktionen. Zuerst wird eine Immunantwort ausgelöst, dann kommt es zu kleinen Entzündungen. Ein gesunder Körper kann damit aber gut umgehen. Wir vermuten zudem noch andere Faktoren, die bei Long-Covid-Patienten dauerhafte Entzündungen begünstigen, beispielsweise Reste des Spike-Proteins von SARS-CoV-2.
Welche Erfahrungswerte aus den Sportwissenschaften können helfen, PEM-Episoden zu lindern?
Wir wissen von Hochleistungssportlern, dass Magnesium das chemische Gleichgewicht im Muskel verbessert. Bis zu 300 Milligramm pro Tag insgesamt können Sie problemlos zu sich nehmen, auch als Präparat. Daneben kann ich Zink und Selen empfehlen, die beide Entzündungen hemmen. Wir wissen aus einer neuen Studie auch, dass Kreatin die Muskelkraft und Erholungszeit von einigen ME/CFS-Patienten verbessern kann. Das ist aber nur Menschen mit gesunder Nierenfunktion zu empfehlen.
„Die Schattenpandemie“: Millionen Menschen leiden unter den Spätfolgen einer Corona-Erkrankung. Die Forschung zu Long Covid und den Ursachen ist komplex.
Wie nahe ist die Forschung an einer Heilung?
Wir glauben, dass wir in etwa sechs Jahren ein gutes Verständnis davon haben, wie PEM im Detail funktioniert. Spätestens dann lassen sich Medikamente gezielt an jenen Stellen im Körper einsetzen, die nach einer Virusinfektion aus dem Ruder gelaufen sind. Das können durchblutungsfördernde Mittel sein oder auch Medikamente, die die Mitochondrien direkt stärken. In klinischen Versuchen werden bereits existierende Medikamente als Off-Labels getestet und neue entwickelt. Bis zu einer Zulassung wird aber noch einige Zeit vergehen. Bis dahin heißt es: Durchhalten!
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