#Der Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Ben Richards
Inhaltsverzeichnis
Eine zur Abwehr des Biographischen in der Philosophie gerne zitierte Sentenz Martin Heideggers lautet, dass Aristoteles geboren wurde, arbeitete und starb – und man damit zu seinen Texten übergehen könne. Aristoteles war freilich ein leichtes Exempel, seit seinen Zeiten sind verlässliche biographische Nachrichten doch etwas reicher geworden. Auch über Heideggers Lebensumstände wissen wir schließlich einiges, und die Kenntnis der Liebesumstände des erotisch Umtriebigen werden vielleicht dereinst noch ein paar Briefnachlässe erweitern.
Obwohl damit die Frage bleibt, was insbesondere Beziehungs- und Liebesgeschichten auf philosophischem Terrain für Interesse beanspruchen können. Die nächstliegende Antwort ist vermutlich, dass die Frage zu spät gestellt ist, wenn das biographische Interesse erst einmal am Werk ist. Wofür gar nicht Heidegger das beste Beispiel ist, sondern der andere Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts, der es zu eminenter Wirkung oder zumindest Bekanntheit weit über die Profession hinaus gebracht hat. Und das gerade deshalb, weil seine Ausstrahlung jenseits akademischer Einhegungen sich geradezu im Medium des Biographischen entfaltete.
Die Rede ist natürlich von Ludwig Wittgenstein. In seinem Fall hängt das kaum zu vermeidende biographische Interesse zum einen am absolut hervorstechenden Lebenslauf. Aber dieser Lebenslauf selbst ist nicht zu trennen von den unablässigen bohrenden Selbstbefragungen Wittgensteins. So wie diese Selbstbefragungen sich wiederum kaum ganz von den Texten abtrennen lassen, die Zeugnis seines Philosophierens sind; es wurde diese Abtrennung zumindest mit einer Editionspraxis, die immer detaillierter die Aufzeichnungen in Notizbüchern, Manuskripten und Typoskriptbänden verfolgen ließ, zusehends schwieriger. Und hinzu kam ja, neben Briefeditionen, auch noch einiges an biographischen Mitteilungen aus dem Kreis der Freunde, Bewunderer und Bekannten.
Die Einsamkeit gleichzeitig suchend und fürchtend
Mehr als achtzig Jahre nach Wittgensteins Tod ist nun ein weiterer Briefwechsel erschienen. Er ist von Gewicht für den Einblick in den Lebenshintergrund seiner philosophischen Arbeit in den letzten Lebensjahren. Gegen Ende 1945 hatte der nach Kriegsunterbrechung seit gut einem Jahr wieder in Cambridge lehrende Wittgenstein den jungen Ben Richards kennengelernt, der dort drei Jahre zuvor sein Medizinstudium begonnen, aber auch Ausflüge zu philosophischen Vorlesungen gemacht hatte. Ein paar Monate später taucht der fünfunddreißig Jahre jüngere Sohn aus einer Londoner Arztfamilie dann in den Manuskripten auf, meist in Passagen, für die Wittgenstein seine Methode einfacher Verschlüsselung benutzte. Sie zeigen ihn unter dem Eindruck, oder vielmehr Schock, einer heftigen Leidenschaft, von der er sich Rechenschaft zu geben versucht.
Ben Richards
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Bild: Wittgenstein Archive
Dass daraus nicht bloß ein kurz dauerndes Verhältnis geworden war, sondern die Beziehung über Jahre bis zum Tod Wittgensteins im Frühjahr 1951 gehalten hatte, das wusste man aus Wittgensteins Briefen an Dritte und deren Mitteilungen. Aber die zwischen beiden gewechselten Briefe, bereits 1995 nach dem Tod von Ben Richards in einem ersten Konvolut von der Österreichischen Nationalbibliothek erworben, wurden erst 2020 für die Öffentlichkeit frei, bevor im Jahr darauf noch ein ergänzendes zweites Konvolut nach Wien kam. Ins Deutsche übersetzt, liegen sie nun in einer gediegen kommentierten Edition vor, etwa zweihundertfünfzig Briefe Wittgensteins und neunzig von Richards, dessen Antworten in der Zeit von Ende 1947, als Wittgenstein seine Professur niederlegt, bis Mitte 1949 allerdings fehlen; dazu einige Bilder, Glückwunschkarten, auf Zettel gekritzelte Nachrichten.
Es ist kein unbekannter Wittgenstein, dem man hier begegnet. Den immer wieder von Niedergeschlagenheit geplagten, die Einsamkeit gleichzeitig suchenden und fürchtenden, die fatale Möglichkeit des Verebbens seiner philosophischen Produktivität sich vor Augen stellenden Wittgenstein, der sich Anfang 1948 noch fragt, ob er sein Buch (also die „Philosophischen Untersuchungen“) wird fertigstellen können, diese Aussicht aber wohl bald danach fahren lässt, bevor knapp zwei Jahre später seine Krebserkrankung diagnostiziert wird, die ihn aber nur zeitweise daran hindert, an neuen Manuskripten zu arbeiten – man kennt ihn auch aus anderen Briefen und Zeugnissen. In den Briefen an Richards kommt aber nun der Liebende der letzten Jahre hinzu.
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