#Der Fiktions-Effekt
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„Der Fiktions-Effekt“
Gladbeck, das ist nicht bloß der Name einer wenig aufregenden Stadt im nördlichen Ruhrgebiet. Seit 1988 ist es auch Synonym für eines der spektakulärsten Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik, das mit Bankraub und Geiselnahme begann, einmal quer durchs Land führte und nach 54 Stunden auf der Autobahn bei Bad Honnef zu Ende ging. Drei Menschen kamen ums Leben, zwei von ihnen wurden von den Geiselnehmern Rösner und Degowski erschossen. Die Polizei machte keine gute Figur, die Medien machten eine noch schlechtere: Fernseh- und Printjournalisten filmten und interviewten wie bei einem Betriebsausflug die Täter oder dienten sich als Vermittler an.
Es war das erste Mal, dass ein Millionenpublikum live bei einem Kapitalverbrechen zuschauen konnte. Die öffentlich-rechtlichen und die noch jungen privaten Sender konkurrierten nicht nur um den größeren Scoop und die heißeren Bilder. Sie wurden selbst zum „treibenden Element“, wie Volker Heise im Interview zu seiner Netflix-Produktion „Gladbeck. Das Geiseldrama“ sagt.
So rau und roh wie möglich
Natürlich ist Heises Film nicht der erste zum Thema. Mehrfach sind die Geschehnisse, wie ein anhaltendes Branchentrauma, aufgearbeitet worden, nicht nur im üblichen Dokumentarformat; auch als Dokudrama („Wettlauf mit dem Tod“, RTL 1998), als eine Art fiktionaler Überbietungsversuch („Ein großes Ding“, Arte/ZDF 1999), als minutiöses Reenactment („Gladbeck“, ARD 2018) und, immer noch ein Meilenstein, als blutige Farce von Christoph Schlingensief unter dem starken Titel „Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“ schon 1992.
„Dieser Film besteht ausschließlich aus Originalaufnahmen“ liest man bei Heise anfangs. „So rau und roh wie möglich“ habe er das Material präsentieren wollen, ohne Zeitzeugenbefragungen und das übliche Beiwerk – eine Folge von Bewegtbildern, Standbildern, eingeblendeten Zeitungsseiten, dazu eine sehr diskrete Musik. Heise hat Erfahrung mit dieser Art Collage, das hat er zuletzt in seiner dokumentarischen Erzählung „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“ (2020) eindrucksvoll gezeigt. Es geht ums Zeigen. Nicht ums Sagen.
Auch im Gladbeck-Film ist das Erzählerische ganz in der Montage aufgegangen. Die Gruppierung, das Arrangement des Materials, Auswahl und Timing sorgen für die narrative Form. Zugleich gilt es, diese reflexionslosen Bilder, die Kumpanei und die Distanzlosigkeit derer, die sie gemacht, und derer, die sie in Auftrag gegeben und verarbeitet haben, nicht einfach zu reproduzieren. Heise löst das souverän: Er lässt die Bilder von damals die Bedingungen ihrer Entstehung desavouieren.
Doch obwohl alles, was man sieht, Found Footage ist, entsteht beim Sehen ein seltsamer Effekt. Man könnte von „Refiktionalisierung“ sprechen. Es kommt einem so vor, als sähe man einen formal avancierten Kriminalfilm, der mit einem Mangel an Perfektion kokettiert, gezielt verschiedene visuelle Formate einsetzt und pointierte Dialogzeilen – „Ich scheiß auf mein Leben, ich bin von Haus aus Verbrecher“, sagt der Gangster Rösner. Als sähe man ein Mockumentary, einen Spielfilm, der sich als Dokudrama ausgibt.
Das war so sicher nicht Heises Absicht. Es dürfte jedoch kein Zufall sein, dass in den Achtzigerjahren, nach Romanen wie Don DeLillos „Sieben Sekunden“ oder „Weißes Rauschen“, die „Fiktionalisierung der Wirklichkeit“ zur griffigen Formel wurde, für die Gladbeck ein perfekter Beleg war. Medienhistorikern könnte dieser Effekt einen interessanten Befund liefern: Je näher man die Bilder des Wirklichen anschaut, desto fiktionaler schauen sie zurück. Das ist kein historisches Gesetz, eher eine empirische Beobachtung, die sich auch an in Realzeit medialisierten Ereignissen wie der Verfolgung von O. J. Simpson 1994 machen ließ.
Auf Gladbeck kommen Bild- und Textmedien selbst in Zeiten von Social Media auch deshalb immer wieder zurück, weil selten so greifbar wird, wie mediale Darstellung ihren Gegenstand gestalten will, wie ein Medium zum Agens wird.
Vom 8. Juni an auf Netflix.
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