der große Blackout am Flughafen

Inhaltsverzeichnis
Plötzlich blieben die Gondeln stehen, die gerade noch über das Lissaboner Weltausstellungsgelände von 1998 geschwebt waren, und wir erkannten nicht das Menetekel, sondern machten dummen Witze. Doch der Spaß sollte uns bald vergehen. Zum Glück hatten wir auf eine Luftfahrt verzichtet, scherzten wir, sonst säßen wir jetzt da oben fest und verpassten am Ende noch unseren Weiterflug. Wir kamen aus Fortaleza und hatten unsere Tochter besucht, die im Nordosten Brasiliens das Abschlusspraktikum ihres Studiums absolviert und die wir acht Monate lang nicht gesehen hatten. Deswegen waren wir in bester Laune während unserer fünfstündigen Wartezeit zum Tejo hinuntergefahren und dachten an nichts Böses, als man uns im ersten Café einen Cappuccino mit der Begründung verweigerte, die Maschine habe gerade keinen Strom. So etwas kann passieren, halb so wild. Wir ahnten auch noch nichts Schlimmes, als uns im zweiten und dritten Café dieselbe Auskunft gegeben wurde und uns ein Passant von einem massiven Stromausfall auf der gesamten Iberischen Halbinsel erzählte. Das ist ärgerlich, aber kein Problem, weil so etwas immer nur ein paar Minuten dauert. Das glaubten wir und hatten noch keine Ahnung, dass wir gerade in den schlimmsten Blackout der jüngeren Geschichte geraten waren.
Wir werden langsam sterben
Trotzdem entschlossen wir uns, zum Flughafen zurück zu fahren, und als wir in unserem Uber erst das Internet verschwinden sahen, dann in einen fürchterlichen Stau gerieten, die letzten anderthalb Kilometer zu Fuß gehen mussten und uns plötzlich mitten im vierten „Stirb Langsam“-Film über einen großangelegten Cyber-Angriff auf die amerikanische Infrastruktur wiederfanden, begannen wir allmählich die Dimension des Stromausfalls zu begreifen: Alle Ampeln waren tot, an den Kreuzungen verkeilte sich der Verkehr, vor sämtlichen Türen des Flughafens versperrten Polizisten den Passagieren den Zugang, die sich unter Vordächern, an Bushaltestellen und auf Rasenflächen ein schattiges Plätzchen suchten, denn es war ein sehr warmer, sehr sonniger Frühlingstag in Lissabon – und wir drohten zu verdursten, denn nirgendwo war Wasser zu bekommen. Der Kiosk vor dem Flughafen war längst ausverkauft, die Flughafentankstelle hatte ihr Lädchen verrammelt, Hilfspersonal mit Wasserflaschen war weit und breit nicht in Sicht, und auch sonst wurden die Menschen von den Behörden allein gelassen wie die verlorenen Seelen auf einem Schlachtfeld.

Da wir wild entschlossen waren zu überleben, zogen wir in unserer Not los. Vor dem Flughafen streckte eine trostlose Sozialbausiedlung ihre Wohntürme in den Himmel, und unser Instinkt sagte uns, dass deren Bewohner bestimmt einen Tante-Emma-Laden für den alltäglichen Bedarf in ihrer Siedlung hatten. So war es auch, eine Bar gab es sogar dazu, in der wir uns die letzten Sagres-Biere gönnten, die noch halbwegs kalt waren. Dann fragten wir den Wirt nach seinem Wein, er ließ ihn uns kosten, und er war ungenießbar. Unseren Gesichtsausdruck quittierte der Schankmann aber keineswegs mit Verärgerung, sondern mit einem Lächeln und dem Ratschlag, im Supermärktchen nebenan eine Flasche zu kaufen. Dort fanden wir einen hochanständigen Touriga-Rotwein vom Douro, den uns der Wirt entkorkte und bei sich trinken ließ. Ein Korkgeld lehnte er ebenso kategorisch ab, wie die Tante-Emma-Damen auf Wucherpreise angesichts der Drangsal ihrer ungewöhnlichen Kundschaft verzichteten.
Eine Schicksalsgemeinschaft der Not
So wurden wir Teil einer eigenartigen Schicksalsgemeinschaft, in der die Not alle Menschen gleich macht. Gestrandete Passagiere mit teuren Rollkoffern, deren Etiketten sie als Mitglieder der weltweiten Business-Class-Elite auswiesen, mischten sich brüderlich und schwesterlich mit der Sozialbaunachbarschaft: halbstarke Jungs, die mit ihren Mopeds den Mädchen zu imponieren versuchten, ohne sie eines Blickes zu würdigen; Greise mit lückenhaftem Gebiss und hysterischen Schoßhündchen, die in Hausschlappen letzte Einkäufe erledigten; Menschen aus den früheren portugiesischen Kolonien, deren Hoffnungen auf ein besseres Leben in der Einflugschneise ebenso gestrandet waren wie wir jetzt. Und alle nahmen uns mit offenen Armen auf, Hasan und Josy, unsere Wirtsleute, Rosibelle und Michelle, die Betreiberinnen des Supermarkts, Jonas und Bram, die beiden Expats, die in Portugal für eine Internet-Firma als Kontrolleure zweifelhafter Online-Inhalte arbeiteten.

Die Dämmerung senkte sich über Lissabon, die zweite Flasche Douro war geleert, die Aussicht auf die Rückkehr des Lichtes schwand in der beginnenden Dunkelheit, und wir waren zum ersten Mal seit den fernen Jugendtagen unserer Rucksackreisen obdachlos. Eine Fahrt in die stockfinstere Innenstadt war sinnlos, in den Lobbys und Gärten der beiden Flughafenhotels stapelten sich die Menschen kreuz und quer, eine Nacht im Gras und Uringestank zwischen Parkplatz und Terminal wurde mit jeder Minute zur scheußlicheren Gewissheit. Doch dann erbarmte sich unser wie ein guter Hirte Lino, der Hilfskoch der Bar, ein dürres Männchen von kaum anderthalb Meter Körpergröße und den hektischen Bewegungen eines schiefäugigen Mr. Bean, und gewährte uns gegen eine symbolische Summe Obdach. Bald sollten wir wissen, warum es so geschah.
Gottesmütter, Rosenkränze, Dornenkronen
Lino führte uns in seine Sozialwohnung, schimmelnde Wände, blätternder Putz, blinde Fenster, wuchernde Spinnweben, doch für uns ein Palast. Er zeigte uns, bevor er wortlos verschwand, das bescheidene Bad und unser karges Zimmer, das allerdings mit Gottesmüttern, Rosenkränzen, Kruzifixen, dornengekrönten Jesus-Büsten und seltsamerweise auch einer nackten Nymphe im Rokoko-Stil Fragonards vollgestopft war. Da lagen wir nun im flackernden Kerzenschein und wurden uns der Seltsamkeit unserer Situation bewusst: Nichts weiter als ein sekundenkurzer Anblick bei der Landung und höchstens die flüchtige Überlegung, wer dort unten im Lärm nur leben könne, war unser Nachtasyl bisher gewesen. Und jetzt waren wir selbst hier, dank der Großherzigkeit des Hilfskochs Lino, und wussten, dass wir in Zukunft ganz anders auf die Häuser beim Landeanflug blicken würden.
Der Strom kam irgendwann in der Nacht wieder, und so machten wir uns früh am nächsten Morgen auf zum Flughafen, der einem Flüchtlingslager glich. In jeder Ecke lagen erschöpfte Menschen, die viel schlechter aussahen als wir, balgten sich um die wenigen Steckdosen für ihre Handys, stöpselten sogar die Gerätschaften des Flughafenbetreibers heimlich aus und ihre eigenen ein. Greise weinten, Kinder schluchzten, gestandene Menschen verloren die Nerven. Allen war das Lachen vergangen, niemand kümmerte sich um die Gestrandeten, und nur die massive Polizeipräsenz verhinderte die völlige Anarchie.
Wucherpreise für Flugtickets
TAP, unsere portugiesische Fluggesellschaft, wies uns an, eine Nummer zu ziehen, es war die 270, und hieß uns warten. Das taten wir, Stunde um Stunde um Stunde, was blieb uns anderes übrig. Quälend langsam näherte sich die Anzeigetafel der 270, keine Handy-Nachricht von TAP über eine erlösende Umbuchung linderte unsere Pein. Wir fühlten uns unserer Souveränität beraubt, hilflos, ausgeliefert, allein gelassen von unserer Fluggesellschaft, die von den Segnungen des 21. Jahrhunderts noch nichts mitbekommen zu haben scheint und ihre Kunden stattdessen Nummern ziehen lässt. Im Internet suchten wir mit fatalistischem Trotz nach anderen Frankfurt-Flügen, ein illusorischer Versuch, 1000 Euro verlangten die Halsabschneider inklusive 17 Stunden Flugzeit und dreimal Umsteigen in Palma de Mallorca, Athen oder Belgrad. Und die Homepage von TAP meldete den Ausverkauf sämtlicher Flüge nach Frankfurt – kein Wunder, denn ihre Maschinen nach Deutschland sind immer rappelvoll, und wir fragten uns, wie man eine gesamte Passagierladung auf die Schnelle noch in einem solchen Flugzeug unterbringen will.

In unserer Verzweiflung buchten wir nach sieben Stunden Wartezeit für sehr kleines Geld einen Condor-Flug von Faro nach Frankfurt für den übernächsten Tag, dreieinhalb Stunden Busfahrt an die Algarve waren immer noch besser als das Verrotten im Chaos von Lissabon. Auch ein Hotel war schon reserviert, als plötzlich die 270 näher rückte und uns dann tatsächlich wie einst die Gottesmutter von Fátima den Hirtenkindern erschien. Eine stoische Mitarbeiterin von TAP inspizierte unsere verfallene Bordkarte, tippte wortlos auf ihrer Tastatur herum und händigte uns nach drei Minuten neue Bordkarten aus: Wir sollten uns beeilen, der Frankfurt-Flug starte in einer halben Stunde. Wir hetzten zum Gate, jetzt fassungslos vor Ärger darüber, dass wir diese Auskunft nicht längst auf unserem Telefon hatten, und fragten verzweifelt den Gott der Reisenden, welcher Sünde wir uns schuldig gemacht hatten.
Wir hatten maximales Pech: ausgerechnet zu dieser Tageszeit an diesem Tag, ausgerechnet mit dieser miserablen Fluggesellschaft an diesem grässlichen Flughafen, der über viele Stunden komplett geschlossen war und viele Stunden lang brauchte, um das Chaos einigermaßen zu bändigen, während in Madrid fast alle Flüge pünktlich gestartet waren. Das musste eine himmlische Strafe für ein uns unbekanntes Verbrechen sein – oder auch nur eine Demutsübung in einer Welt, die vergessen hat, wie leicht man ihr den Stecker ziehen und sie aus den Angeln heben kann, wie fragil das scheinbar Selbstverständliche ist, wie vermessen der Anspruch auf permanente Reibungslosigkeit, wie fragwürdig das Recht auf immerwährende Bequemlichkeit und wie groß die Hybris des Menschen, der glaubt, das Schicksal absolutistisch beherrschen zu können.
Unsere Tochter in Brasilien hatte aus Abenteuerlust und Klimaschutzgründen den Atlantik auf dem Boot eines Einhandseglers überquert, sieben Tage von den Kanaren auf die Kapverden, dann noch einmal fünfzehn Tage weiter nach Recife, auf einem Schiffchen ganz ohne technischen Schnickschnack, kaum anders als einst Vasco da Gama und Fernando Magellan. Sie hätte nicht so leicht die Geduld und Contenance verloren wie ihre Eltern, die gerade einmal 24 Stunden später als geplant in Frankfurt landeten und dennoch glaubten, um Haaresbreite dem Weltuntergang entronnen zu sein. Und wir beschlossen, dass uns unsere Tochter künftig Vorbild sein soll, auch wenn wir niemals das Düsenflugzeug gegen ein Segelboot eintauschen würden.
Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.
Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.