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#Der Ochse küsst des Kindes Fuß

Der Ochse küsst des Kindes Fuß

Keine Advents- und Weihnachtsmärkte, Kirchen und Schulen ohne Chöre, stattdessen Tag für Tag fünfstellige Infektions- und dreistellige Todeszahlen, Kämpfe auf Intensivstationen, wachsende Einsamkeit in Altersheimen: Die Zeit vor Weihnachten ist ernst. Und da dieser Ernst lange absehbar war, konnte die Schola Heidelberg jetzt auf die Lage reagieren mit einer CD, die in früheren Jahren weitaus mehr um Akzeptanz hätte kämpfen müssen: „Die Zeit nunmehr vorhanden ist – Weihnachtliche Vokalmusik in bedrängter Zeit“ (Christophorus/Note1). Sie eignet sich nicht als Wohnzimmerberieselung beim Verzehr von Pfeffernüssen, Kokoskringeln und Marzipanschweinen. In ihrer Sprödigkeit und Kargheit erzwingt sie das Zuhören. Die kunstvollen Chorsätze erinnern daran, dass Weihnachten, theologisch verstanden, ein weltgeschichtliches Wunder ist: die unwahrscheinliche Wende menschlicher Not.

Jan Brachmann

Die CD versammelt A-cappella-Musik des späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhunderts, doch sie begnügt sich nicht damit. Auf neun der 32 Nummern liest Bodo Primus Texte des Philosophen Enno Rudolph, der nicht nur ein exzellenter Kenner der Renaissance ist, sondern seit Jahrzehnten auch die Arbeit des Schola-Leiters Walter Nußbaum empathisch begleitet. Ihren Titel verdankt die CD einem Chorsatz von Johann Hermann Schein: „Die Zeit nunmehr vorhanden ist, dass ich von hinn’ soll scheiden: Ach, lös mich auf, Herr Jesu Christ, verkürz mein Qual und Leiden.“ Die zweite gesungene Strophe endet mit den Worten: „Mein Herre Christ, so besser ist. In dieser Zeit ist nichts denn Leid: Will gern von hinnen lenken.“ Enno Rudolph deutet diesen Chorsatz als Zeugnis von Todesangst und Fristbewusstsein. Die Freude an der Diesseitigkeit fehle völlig. Text und Musik klängen so, als habe die Renaissance gar nicht stattgefunden. Christlicher Glaube flieht nicht aus der Welt, er schärft das Bewusstsein von der eigenen Lage.

Für Rudolph spiegelt sich in der Musik dieser Zeit freilich das Wunder der Weihnacht auch als Epochendrama wider. Christus ist Gott und Mensch zugleich. Wo die Philosophie der Renaissance die Menschenwürde gefeiert hatte als Auftrag Gottes an den Menschen, seine eigene Natur selbst zu bestimmen, ruft gerade die reformatorische Theologie dazu auf, die Gotteswürde wiederherzustellen. Doch hört man der Schola Heidelberg unter Walter Nußbaums Leitung zu, dann spürt man, dass die Freude an der Kreatürlichkeit des Menschen wie die Rechtfertigung dieser Leiblichkeit durch Luthers Theologie auch in der Musik Spuren hinterlassen hat. Die behutsame Arbeit an der Sprache, an den Farben des Glanzes wie des Schmerzes, die der Gesang auf die Worte legt, lässt uns das Geäder der Sprache pulsieren hören. Erst der Gesang als Verbindung von Botschaft und Körper, als neue Fleischwerdung des Wortes, gibt der Theologie ihre besondere Eindringlichkeit.

Die bedrängte Zeit, welche die CD im Titel führt, ist im Jahr 2020 auch die der Pandemie; sie ist überdies die Zeit einer sich verschärfenden Klimakrise. Enno Rudolph stellt sich in seinen Kommentaren diesen Bedrängnissen und bezeichnet die Gleichgültigkeit und Sattheit des Menschen als Gestalten des Bösen. Johannes Eccard schrieb an der Wende zum siebzehnten Jahrhundert einen Choralsatz zu einer Melodie von Martin Luther, die seit 1582 zu Versen von Bartholomäus Ringwaldt gesungen wurde: „Es ist gewisslich an der Zeit, dass Gottes Sohn wird kommen in seiner großen Herrlichkeit, zu richten Bös und Fromme. Da wird das Lachen werden teu’r, wenn alles wird vergehn im Feu’r, wie Petrus davon schreibet.“ Ein Lied für den Ewigkeitssonntag, die innere Vorbereitung auf das Weltgericht. Ein halbes Jahrhundert später hat Paul Gerhardt zu dieser Melodie ein Weihnachtslied geschrieben, das wir nur noch mit der Musik von Johann Sebastian Bach kennen: „Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben.“ Die Schola Heidelberg singt diesen Text wieder zur alten Melodie Luthers und erinnert uns in diesem durchdachten Zusammenspiel von Text und Musik daran, dass Weihnachten jene Weltenwende ist, auf die der Advent als Zeit der Buße und der Erwartung des Weltendes zielt.

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