#Ödipus, eine Stadt sucht einen Mörder
Inhaltsverzeichnis
„Ödipus, eine Stadt sucht einen Mörder“
Die Uraufführung war vor 2446 Jahren. Das Stück ist ein absoluter Reißer: Ein ungeklärter Mordfall, fast schon vergessen, wird plötzlich wieder aufgerollt. Vor Jahren wurde der König ermordet, aber die Beteiligten von damals geben sich heute seltsam unbeteiligt. Der Ermittler ist fassungslos: Sogar die Witwe des Opfers hat sich damit arrangiert, dass der Mörder ihres Mannes ungeschoren davonkam. Weiß Iokaste mehr als sie sagt? Aber warum sollte die Königin schweigen?
Nachdenklich, irritiert, aber entschlossen und selbstgewiss tritt Steven Scharf an die Rampe des Bochumer Schauspielhauses und blickt ins Publikum, als wäre es der Chor dieser antiken Tragödie und Thebens König eine Antwort schuldig. Eben hat er noch wie alle anderen im Bühnenhintergrund gestanden, kein Herrscher, sondern nur ein schwarzer Schattenriss vor leuchtendrotem Himmel, in dem Vogelschwärme mehrmals an diesem außergewöhnlichen Theaterabend ihre rätselschönen Choreographien aufführen: Muster, die sich finden und wieder verlieren. Priester, so heißt es, wüssten daran den Willen der Götter abzulesen. Aber der Priester schweigt. Jetzt, vorn an der Rampe, macht der Ermittler sich beharrlich daran, selbst herauszufinden, was die Götter von den Menschen wollen. Dabei wird er niemanden schonen, vor allem sich selbst nicht. Das wird seine große Leistung sein. Und sein Fluch, sein Schicksal und sein Untergang.
Hochkonzentriert und intensiv
Der „König Ödipus“ des Sophokles, Inbegriff der Tragödie und ihr vollkommenstes Beispiel, als leises, hochkonzentriertes Kammerspiel auf nahezu leerer Bühne? Hat es das schon einmal gegeben? In dieser Intensität, mit diesen Mitteln? Johan Simons, der Intendant des Bochumer Theaters, arbeitet mit Licht, sparsamen Videoeinspielungen, elektronischer Musik, die fasziniert, aber auch das Fürchten lehren kann, und einem tollen Ensemble, das sich ganz auf den Text konzentriert und ihm vertraut. Die neue Bochumer Fassung des Stücks heißt „Ödipus, Herrscher“ stammt von Elsie de Brauw, Mieke Koenen und Susanne Winnacker, ist schlank, geschmeidig und in einer Sprache geschrieben, die sich zu behaupten weiß: gegenüber der Antike, der Gegenwart, dem Pathos.
Langsam, aber stetig verschiebt diese Fassung die Gewichte: von der sachlichen Untersuchung des Verbrechens, mit der sie beginnt, zur allmählich heraufziehenden Katastrophe seiner Aufklärung, von Iokaste, der Königin, zu Ödipus, dem König, der ihr Mann ist und ihr Sohn, der Vater und der Bruder ihrer Kinder und der Mörder ihres früheren Gemahls, der sein Vater war. Und dann, ganz am Ende, ganz überraschend, verschiebt sich noch einmal etwas. Ein Opfer wird verweigert. Dabei handelt dieses Stück ja ständig davon, dass einer etwas will und ein anderer dafür etwas opfern soll.
Zunächst spricht Iokaste. Elsie de Brauw steht vorn am Bühnenrand und erstattet Bericht von Thebens großer Not: Felder verdorren, Tiere verenden, Menschen verzweifeln. So war es schon einmal, vor zwanzig Jahren. Damals erschien ein Fremder, löste das Rätsel der grausamen Sphinx, befreite dadurch die Stadt und erhielt als Lohn die Hand der Königin, die soeben zur Witwe geworden war. Seitdem herrscht Ödipus als König über Theben.
Antikes Gerichtsdrama, alterslos
Zwanzig Jahre später schickt Ödipus seinen Schwager Kreon nach Delphi, um das Orakel zu befragen. Die Plagen, so Kreons Botschaft würden erst vorübergehen, wenn der Mord am alten König Laios gesühnt werde. Ödipus macht sich unverzüglich an die Arbeit, verdächtigt Kreon einer Intrige, befragt Diener und Hirten, bedrängt den blinden Seher Teiresias, bis dieser gegen seinen Willen schließlich den König selbst der Untat bezichtigt. Der glaubt ihm nicht, denn er ist Laios nie wissentlich begegnet. Und nun, unaufhaltsam Indiz an Indiz reihend, enthüllt Ödipus all das, was er nicht wusste: Wer er ist und was er getan hat.
Ein antikes Gerichtsdrama, alterslos. Kleist hat erkannt, dass der Richter, der in einem Verbrechen ermittelt, das er selbst begangen hat, von einer tragischen zur komischen Figur wird, wenn er von Anfang an weiß, dass er selbst der Täter ist. Wie Dorfrichter Adam im „Zerbrochenen Krug“. Johan Simons hat erkannt, dass in dem Richter, der immer weiter ermittelt, obwohl er ahnt, dass er selbst der Täter ist, neben Rechtschaffenheit auch ein Körnchen Kohlhaas steckt, ein Körnchen Entsetzlichkeit nämlich. Vom jovialen Herrscher, der Volk und Stadt aus ihrer Not erlösen will, verwandelt sich Steven Scharf in einen Fanatiker der Gerechtigkeit und der Selbsterkenntnis, die in ihn eindringt und ihn aushöhlt. Ödipus verfällt. Als der letzte Zweifel beseitigt ist, steht Steven Scharf ganz still, streckt die Arme ein wenig aus, dreht die Handflächen nach vorn und lässt die Augäpfel nach hinten wandern, bevor er die Lider schließt. Nun, im Moment der sicheren Erkenntnis der Wahrheit, steht ein Blinder vor uns. Dann wird die Bühne wieder dunkel, der Musiker und Komponist Lukas Tobiassen, der die ganze Aufführung am rechten Bühnenrand sitzt, lässt seine elektronischen Sirenenklänge und Erinnyengesänge noch einmal anschwellen, und aus der Tiefe der Bühne kommt noch einmal Ödipus hervor: Nun sind die Augen ausgestochen, das Gesicht ist blutüberströmt, der Körper wird von Krämpfen geschüttelt, er lallt, als hätte er den Verstand verloren, als er erfahren musste, wer er ist und was er getan hat. Bei Sophokles bringt Iokaste sich um. Bei Simons verweigert sie das Opfer. Elsie de Brauw spielt Thebens Königin wie eine Vorstandschefin: beherrscht, strategisch klug, souverän noch im Umgang mit den eigenen Abgründen. Denn sie hat Ödipus geliebt, den Mann, den Sohn, den Mörder. Aber etwas anderes liebt sie noch mehr.
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