Die Abweichler handelten aus unbrauchbarer Subjektivität

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Schon wieder musste Friedrich Merz (CDU) mit einem zweiten Ball umgehen. Sein erster Versuch, Kanzler zu werden, war gescheitert. Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Kandidat nicht auf Anhieb die Mehrheit im Parlament erhalten. Es fehlten nicht viele Stimmen, weswegen die Deutung ihres Ausbleibens mit Vorsicht erfolgen muss. Sympathisch war die gelassene Reaktion des nominierten Außenministers, Johann Wadephul (CDU), wenn Merz erst gewählt sei, frage irgendwann niemand mehr, ob es im ersten oder zweiten Wahlgang geschah.
Ja, wenn. Der Verzicht auf eine Regierungsbildung wäre hingegen eine derartige politische Katastrophe gewesen, dass die Frage unausweichlich ist, was Abgeordneten durch den Kopf gegangen sein mag, die sie riskierten.
Die Situation als solche war historisch nicht neu. Öfter schon waren nicht alle Parlamentarier mit einem Koalitionsvertrag zufrieden, den ihre Parteiführungen ausgehandelt hatten. Immer schon fühlten sich einige bei der Ämtervergabe ausgebootet oder übergangen. Oft schon schmeckte jemandem der Kandidat für die Wahl zum Bundeskanzler nicht. Dissens ist nicht überraschend.
Merz fast ein Teufel
Dass sich gegenüber solchem Dissens die Norm der Parteidisziplin in der Kanzlerfrage nicht durchgesetzt hat, ist hingegen neu. Das wirft die Frage auf, ob es überhaupt der Kopf der Abweichler war, durch den etwas hindurchging. Denn ganz gleich, ob die Neinstimmen von den Übergangenen und Enttäuschten kamen oder von denjenigen, denen die ganze Vorstellung einer Koalition mit der CDU/CSU gegen den Strich geht: In beiden Fällen scheint die Ablehnung affektgesteuert.
Das erklärt auch, dass sich die Abweichler parteiintern nicht gemeldet haben. Sie verfügen ja nicht – oder haben wir etwas überhört? – über einen vertretbaren Text. Mit ihrem Gewissen, das in solchen Situationen ja gern beansprucht wird, stellen sie sich immerhin gegen sehr eindeutige Abstimmungen in der Gesamtpartei.
Die Neinstimmen sind, so verstanden, Ausdruck einer unbrauchbaren Subjektivität des eigenen Dafürhaltens. Das Motiv des Enttäuschtseins davon, übergangen worden zu sein, ritte ebenso auf der Bedeutung der eigenen persönlichen Sicht herum wie das prinzipielle Unbehagen gegen den Koalitionsvertrag. Oder will wirklich jemand in der 16-Prozent-Partei der Sozialdemokraten den Satz wiederholen, es sei besser, nicht zu regieren, als mit der Union zu regieren? Für wen, lautete die Rückfrage, wäre es denn besser?
Das lenkt zurück zum nur vermeintlich hinter uns liegenden Wahlkampf. Denn aufgebaut wurde das Unbehagen gegen Friedrich Merz durch die Vorgänge um den Entschließungsantrag der Unionsfraktion in Sachen Asylpolitik. Merz und die Seinen, hieß es, hätten das „Tor zur Hölle“ geöffnet. Das war kurz davor, sie Teufel zu nennen und sich selbst in einen Widerstand – gegenüber einem Entschließungsantrag und gegenüber angeblich drohenden Koalitionen – hineinzuphantasieren.
Wer Merz und die Seinen noch „rechts“ nannte, schien zu verharmlosen, dass der Weg angeblich ins Rechtsextreme ging. Auf allen Seiten wurde im Wahlkampf so geredet, als seien Koalitionen mit den anderen eigentlich ausgeschlossen, als sei das Vertrauen verwirkt, als handele es sich bei den politischen Gegnern um schlimmste Leute, die den Geschichtsunterricht geschwänzt hätten, oder umgekehrt um „linke Spinner“, die eine Erziehungsdiktatur vorbereiteten.
Viele zusätzliche Wahlstimmen scheint dieser Austausch melodramatischer Gesten nicht gebracht zu haben. Insofern wäre es eine böse Farce, wenn jene versuchten, ihm auf den letzten Drücker politische Wirkung zu verschaffen, die trotz des Wahlkampftheaters ein Abgeordnetenmandat erreicht haben. Schon das Kalkül, im ersten Wahlgang mal dagegenzustimmen, um später dann doch beizupflichten, wäre verantwortungslos.
Denn es nähme für eine kleine, um nicht zu sagen: mickrige innere Selbstzufriedenheit symbolische Schäden an einer Regierung in Kauf, die es, man mag sie begrüßen oder nicht, schwer genug haben wird. Wer gegen den Koalitionsvertrag etwas hat, sollte nach Formen suchen, seinen Dissens im parlamentarischen Prozess unterzubringen. Dasselbe gilt für privates Unbehagen am Regierungspersonal. Die Abstimmung über den Kanzler ist nicht der Ort für verdruckste Negation.
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