#Die Mär von der bröckelnden Mitte
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„Die Mär von der bröckelnden Mitte“
Die deutsche Mittelschicht ist stabil – viel stabiler, als ihr nachgesagt wird. Egal, welche Definition und Datenquelle man wählt: Der Anteil der Bevölkerung, der sich zur Mitte der Gesellschaft zählen lässt, hat sich in mehr als zehn Jahren kaum verändert und ist schon gar nicht geschrumpft. Das zeigt eine neue Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die der F.A.Z. vorliegt. Gemessen an ihren Selbsteinschätzungen, gehören inzwischen sogar deutlich mehr Bürger mittleren und höheren Schichten an als damals.
Für die Zeit bis kurz vor der Corona-Pandemie lässt sich der Befund inzwischen statistisch gut belegen, wie die Studie zeigt. Soweit bisher absehbar, müsse man aber auch infolge der Pandemie „keine größere Veränderung des Schichtgefüges erwarten“, schreiben die Verteilungsforscher Judith Niehues und Maximilian Stockhausen. Inwieweit sich dies auf die Folgen des Kriegs in der Ukraine übertragen lasse, sei vorerst offen. Eines der größten Risiken für die Stabilität der Mittelschicht wäre ein anhaltender Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Die bisherige Entwicklung stellt sich jedoch mindestens in Teilen sogar sehr positiv dar. Das gilt vor allem, wenn man fragt, wo sich Bürger selbst in der sozialen Schichtung sehen. Auf einer zehnstufigen Skala ordneten sich 2018 knapp 80 Prozent der Bevölkerung den mittleren und höheren Schichten zu, gegenüber nur 56 Prozent im Jahr 2006, wie das IW mit Daten der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ zeigt. Auf der siebten Stufe oder darüber sah sich zuletzt die Hälfte der Befragten, nur 25 Prozent waren es im Jahr 2006.
Dies widerspricht Darstellungen einer im Dezember veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung. Unter dem Leitsatz „Die deutsche Mittelschicht bröckelt“ hatte sie erklärt: „1995 zählten noch 70 Prozent der Bevölkerung zur mittleren Einkommensgruppe, 2018 waren es nur noch 64 Prozent.“ Bei näherem Hinsehen ließ sich aber auch dieser Publikation entnehmen, dass dieses „Bröckeln“ eigentlich nur in den Jahren vor 2005 festzustellen war. Allerdings, so die Stiftung, habe sich die Mitte seither trotz Wirtschaftswachstums und sinkender Arbeitslosigkeit „nicht erholt“. Diese Daten geben allerdings keine Selbsteinschätzungen wieder: Befragte geben an, wie hoch ihr Einkommen ist, und werden damit Schichten zugeordnet.
Auch das IW nutzt für die weitere Analyse solche Einkommensdaten, teilt nur die Schichten etwas anders ein: Es betrachtet eine Kernmittelschicht, die sich in einer Bandbreite von 80 bis 150 Prozent des mittleren Einkommens in der Gesellschaft bewegt; sowie eine erweiterte Mitte im Bereich von 60 bis 250 Prozent um den Mittelwert. Damit zählten Singlehaushalte 2018 mit verfügbaren Monatseinkommen von 1620 bis 3040 Euro zur Kernmittelschicht, die erweiterte Mitte reichte von 1220 bis 5060 Euro. Nach der Bertelsmann-Definition umfasste die erweiterte Mitte 75 bis 200 Prozent des Mittelwerts.
Faktor Zuwanderung
Die Entwicklung im Zeitablauf ist aber durchweg ähnlich: keine schrumpfende Tendenz seit vielen Jahren. Zur Kernmittelschicht nach IW-Definition zählten zuletzt 49 Prozent der Bevölkerung. Kurz nach der Wiedervereinigung hatte sie genau die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht und war dann zunächst schrittweise auf 54 Prozent gewachsen. Nach der Jahrtausendwende schrumpfte sie zeitweilig bis auf 47 Prozent und legte zuletzt wieder geringfügig zu. Ergänzend weist das IW darauf hin, dass Migration die Werte etwas verzerren könne. Kurz gefasst: Kommen mehr Hilfesuchende ins Land, dann drückt dies statistisch den Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung, selbst wenn sich für diese ansonsten wenig ändert.
Es gibt aber den Einwand, dass trotz des insgesamt stabilen Anteils der Mittelschicht die soziale Mobilität gesunken sei – vor allem gelinge es heute seltener, aus der Zone relativer Armut heraus aufzusteigen. Anhaltspunkte dafür findet auch das IW: Aus der Gruppe, die 1994 weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielte, stiegen bis 1998 noch 28 Prozent zur unteren Mitte auf. In den Jahren 2004 bis 2008 gelang das 21 Prozent. Von 2014 bis 2018 waren es 23 Prozent.
Allerdings bleibt dabei das allgemeine Tempo der Einkommenszuwächse außer Acht. Das war zuletzt deutlich höher, wie die IW-Studie zeigt: Von 1994 bis 1998 stiegen die Realeinkommen der untersten Gruppe durchschnittlich nur um 3,2 Prozent, von 2014 bis 2018 jedoch um 9,8 Prozent. Der Aufstieg wurde also auch insofern schwerer, als man dafür die 9,8 Prozent Zuwachs übertreffen musste.
Überdies hängt die Zahl der Aufstiege nicht zuletzt mit der Altersstruktur der Gesellschaft zusammen, wie die Studie nahelegt: Starten junge Menschen nach Studium oder Ausbildung ins Berufsleben, ist das fast immer ein sozialer Aufstieg. Wenn es aber aus demographischen Gründen weniger Berufseinsteiger gibt, dann kommt es schon deshalb zu weniger Aufstiegen in die Mittelschicht.
Im Idealfall wirkt diesem Bremseffekt aber künftig der Faktor Zuwanderung entgegen. Denn in dem Maß, wie ehemalige Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen, steigen mehr Menschen aus der unteren Einkommensschicht in die Mitte auf.
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