#Die Notre-Dame des Eisenbetons
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Die Pariser Banlieue ist nicht über einen Kamm zu scheren und auf triste Wohnsilos zu reduzieren. Sie besitzt sogar architektonische Perlen wie Notre-Dame-de-la-Consolation im östlich der Hauptstadt gelegenen Vorort Le Raincy. Besser bekannt als Notre-Dame du Raincy, fehlt das 1922/23 errichtete Gotteshaus an der heutigen Avenue de la Résistance in keiner Geschichte moderner Architektur.
Für den Neubau, den er sich wünschte, verfügte der Geistliche Félix Nègre nur über ein sehr bescheidenes Budget, und Architekt Auguste Perret, mit dem er zusammenkam, weil dieser für kostengünstiges Bauen und Pragmatismus bekannt war, brannte darauf, einmal eine Kirche entwerfen zu können. Ein Wink des Himmels: Perret hatte sich gemeinsam mit seinen Brüdern, dem Architekten Gustave und dem Unternehmer Claude Perret, mit einem innovativen Wohnhaus und dem Théâtre des Champs-Elysées einen Namen gemacht. Nègre und die Perrets einigten sich rasch, und gut dreizehn Monate nach der Grundsteinlegung wurde Notre-Dame du Raincy vor hundert Jahren, am 17. Juni 1923, geweiht.
Ein in konventioneller Bauweise aus Stein oder Ziegeln errichteter Sakralbau hätte zeitgenössischen Schätzungen zufolge dreimal mehr als die veranschlagten 600.000 Franc (etwa 680.000 Euro) gekostet und doppelt so lange gedauert. Was Auguste und Gustave Perret hingegen entstehen ließen, eine dreischiffige Hallenkirche mit hohem Turm, war Frankreichs erste Kirche in sichtbar gebliebenem Eisenbeton. Sie konnten dafür an Erfahrungen anknüpfen, die sie als Bauunternehmer an der 1913 geweihten Cathédrale du Sacré-Cœur im algerischen Oran gemacht hatten.
Wie für das Theater an der Pariser Avenue Montaigne hatten sich die Perrets für Notre-Dame du Raincy der Mitarbeit von Maurice Denis und Émile-Antoine Bourdelle versichert. Der Maler lieferte Entwürfe für Glasmalerei, der Bildhauer den für eine „Pietà“, das erst 1999 angebrachte Bronzerelief am Tympanon des Portals. Der mittige Eingang ist zugleich Basis eines ebenso kompakten wie schlanken und weithin sichtbaren Turms, dem – auch heute noch – etwas Futuristisches anhaftet. Er mag an frühe Wolkenkratzer erinnern und wurde sogar mit dem gut zehn Jahre älteren New Yorker Woolworth Building verglichen. Doch gegenüber dem Skyscraper in Manhattan, dessen filigrane bauplastische Dekore Motive der Gotik aufgreifen, wirkt Perrets nahezu schmuckloser (und auch viel niedrigerer) Turm allein durch die Sichtbarmachung seiner Konstruktion und die skulpturale Qualität seiner durchbrochenen Bekrönung.
Durchbrüche kennzeichnen außen wie innen auch die Kirche selbst. Die dem Prinzip der arabischen Maschrabiyya verwandten Fassadenelemente wurden vielleicht von traditioneller Oranaiser Architektur inspiriert. Nun als Fertigteile in Serie produziert und unabhängig vom Tragwerk über der Sockelzone eingesetzt – sie bestehen aus einem halben Dutzend in unendlichen Kombinationen gereihten Einzelformen, darunter Kreise, Kreuze und Rechtecke –, schirmen sie nach außen ab, während sie innen den weiten, nüchternen Raum begrenzen. Diesen prägen zudem leicht kannelierte, fast beunruhigend grazile Säulen, welche die Schiffe markieren und die Gewölbe tragen. Das rohe Material ist überall sichtbar geblieben; verputzt wurde nicht.
Der Glasmaler und die Glasmalerin
Die Perrets verbanden profunde Materialkenntnisse – Großvater und Vater hatten als Steinmetze gearbeitet – mit solchen der Architekturtheorie und der Debatten, die sich in der Zeit des Ausklingens des Jugendstils um Tradition und Fortschritt drehten. Aus eigener Praxis kannten sie zudem die Chancen, die reine Industriearchitektur bot. Bevor sie erste Entwürfe für Le Raincy in Angriff nahmen, hatten sie sich aber zunächst mit den Zwängen eines vorgegebenen und bereits umbauten Grundstücks zu arrangieren. Für ein Querschiff war es zu schmal und die Ostung des Chors nicht möglich. Die gefundene Lösung ließ diese Nachteile vergessen. Und auch ein anderer Zwang, die deutliche Neigung des Geländes, löste sich in Wohlgefallen auf: Um dessen kostenintensive Terrassierung zu vermeiden, nahmen sie in Kauf, dass der Boden zum Chor hin abfällt und der Altarraum eines hohen Podiums bedurfte. Unter diesem befinden sich ebenerdig die Sakristei und ein Saal in der Art einer Krypta.
Der klaren Anlage verleihen die verglasten Fertigbauelemente zusätzlich Struktur und Systematik. Das durch sie strömende farbige Licht bestimmt dabei die Raumwirkung ganz maßgeblich. Gelb-, Violett- und Rottöne in vielen Abstufungen sowie Flaschengrün wechseln ab; den Chor bezeichnet tiefes Blau. Auch hierdurch werden Assoziationen mit Bauten des Mittelalters geweckt. Auf das gotische „Schatzkästchen“ in Paris anspielend, wurde Notre-Dame du Raincy einmal als „Sainte Chapelle des Eisenbetons“ bezeichnet. Maurice Denis’ Zyklus narrativer Glasmalereien ist in luftiger Höhe platziert, kann aber kaum übersehen werden. An die Rolle des Künstlers erinnert in der Kirche eine historische Tafel. Allerdings blieb dort die Mitarbeit der Glasmalerin Marguerite Huré, einer Pionierin – das Metier war in jener Zeit noch eine Männerdomäne –, unerwähnt. Dabei dominieren nicht Denis’ figurative Kompositionen die Gesamtwirkung, sondern Hurés unzählige kleine Scheiben mit abstrakten farbigen Motiven. Sie setzen der Strenge und Regelmäßigkeit des Baus eine geradezu berührende Sinnlichkeit entgegen.
Anders, als man damals dachte, altert Beton selten gut. An Notre-Dame du Raincy traten schon in den Sechzigerjahren Schäden auf, zu einer Zeit, als Restauratoren noch kaum Erfahrung im Umgang mit dem Material hatten. Seitdem haben sie hier und da ermüdete Partien ersetzen müssen, aber auch erfolgreich neue Verfahren erprobt. Die Gemeinde sieht dem Jubiläum mit Stolz, aber auch Gelassenheit entgegen: Gerüste, die noch unlängst für Sicherungsarbeiten nötig waren, konnten pünktlich abgebaut werden, sodass Besucher den technisch wie ästhetisch bemerkenswerten Bau wieder ganz erfassen können.
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