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#Ein Blick auf die Op­fer der Kämpfe

„Ein Blick auf die Op­fer der Kämpfe“

Von weitem hört man Einschläge. Dann kommen sie näher. Als die Menschen wieder vor die Tür gehen können, sammeln sie Granatsplitter auf, viele der gezackten Me­tall­stücke sind noch heiß. Ein Mann erzählt von einem Nachbarn, der nach einer Ex­plo­sion mit halb abgerissenem Kopf durch die Luft geschleudert wurde. „Er trug noch seine Gartenhandschuhe.“ In ihrem Haus habe es nur alle Fenster weggeblasen, sagt eine Frau.

Es sind die ersten Bilder vom Krieg aus der Ukraine, die in Cannes gezeigt wurden. Der Mann, der sie aufgenommen hat, der litauische Regisseur und Anthropologe Mantas Kvedaravičius, lebt nicht mehr. Er wurde Anfang April beim Versuch, aus der be­la­ger­ten Hafenstadt Mariupol zu entkommen, von russischen Soldaten getötet. Aus dem Material, das er hinterließ, haben seine ukrainische Lebensgefährtin und eine befreundete Cut­terin einen Film ge­schnit­­ten. „Mariupolis 2“ lief in Cannes in einer Sondervorführung außer Konkurrenz. Wo sollte er auch sonst laufen? Mit den Bildern, die er enthält, kann im Moment kein anderer Film konkurrieren.

Er blickt auf die Opfer: Zivilisten, alte Männer, Frauen und Kinder

Kvedaravičius zeigt keine Kampfhandlungen, er richtet seinen Blick auf die Op­fer der Kämpfe: Zivilisten, alte Männer, Frauen und Kinder. Im Zentrum des Geschehens steht ein Backsteinbau in einem nordöstlichen Stadtteil von Mariupol, der früher einer evangelischen Gemeinde als Gotteshaus diente. Jetzt dient er den Überlebenden aus der Nachbarschaft als Zuflucht. Im Keller suchen sie Schutz vor den Granaten, im Hof kochen sie ihre Mahlzeiten, im Kirchenschiff danken sie Gott für ihre vorläufige Rettung. Wenn das Schießen aufhört, ziehen einige von ihnen los, um die Ruinen nach brauchbaren Gegenständen abzusuchen. Die Leichen, die vor einem Hauseingang liegen, kümmern die Männer nicht, sie interessieren sich nur für den Stromgenerator der Toten. So erzeugt der Krieg seinen eigenen Eigentumsbegriff.

Mantas Kvedaravičius


Mantas Kvedaravičius
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Bild: Imago

Erst abends, wenn der Regisseur in sein Quartier auf einer Anhöhe über der Stadt zurückkehrt, kommt das Drama der Belagerung ins Bild. In der Ferne, ganz links, ahnt man den Hafen und die Türme des Stahlwerks Asowstal. Später beginnt es dort zu brennen, und irgendwann ist der Feuerschein so intensiv, dass er den Nachthimmel erhellt. Oft ist es still, aber nie lange genug, um die Unruhe zu vertreiben, die von den vorgehenden Artillerieeinschlägen oder Gewehrsalven herrührt. Dabei sind die Abende klar, die Sonnenuntergänge prächtig, tagsüber liegt schon der Frühling in der Luft. Die Vögel singen, die Bäume treiben Blüten, und Mariupol stirbt.

Kassiber aus einer untergegangenen Stadt

Es fällt schwer, „Mariupolis 2“ als Dokumentarfilm zu bezeichnen. Dafür sind seine Schnittfolgen zu ungeformt, seine Szenenwechsel zu plötzlich, seine Einstellungen zu monoton. Eher müsste man von ei­ner Flaschenpost reden, einem filmischen Kassiber, der die Welt aus der untergegangenen Stadt an der Schwarzmeerküste er­reicht. Daher ist es auch sinnlos, die Bilder von Kvedaravičius nach filmkritischen Maß­stä­ben beurteilen zu wollen. Der Film ist gelungen, weil es ihn gibt. Zwei Stunden lang riss er das Festivalpublikum von Cannes aus der Welt, wie sie auf der Leinwand erscheint, heraus in die Wirklichkeit, wie sie im Augenblick ist.

Nach dieser Lehrstunde über Ästhetik und Wahrheit im Kino fiel es schwer, wieder in die Normalität des Wettbewerbs an der Croisette zurückzukehren. Dort lief un­ter­dessen ein neues Werk des französischen Regisseurs Arnaud Desplechin: „Frère et sœur“ (Bruder und Schwester). Ma­ri­on Cotillard und Melvil Poupaud spielen ein Geschwisterpaar, das sich so inbrünstig hasst, wie es sich einst, in der Kindheit, ge­liebt hat – eine Konstellation wie von Bergman und Robert Altman, nur dass man bei Desplechin nie richtig versteht, was die beiden (außer seiner Schriftsteller- und ih­rer Schauspielerinnenkarriere) eigentlich auseinandergetrieben hat.

Als ihre Eltern nach einem schweren Unfall im Krankenhaus liegen, müssen Alice und Louis in ihre Heimatstadt Roubaix zurückkehren (in der auch der Regisseur aufgewachsen ist), um Abschied zu nehmen. Dort treffen sie auf den Rest der Familie, den Bruder, den Neffen, den besten Freund, die wechselseitigen Lebenspartner. Desplechin handhabt dieses Gruppenbild, wie man es von einem Könner erwartet: Wenn von Vergangenem die Rede ist, schiebt er eine Rückblende ein, wenn er dem Zufall nachhelfen muss, lässt er es hageln. Trotzdem hält das Familienpuzzle nicht zusammen. Der Film hangelt sich von Szene zu Szene, und wenn man genau hinschaut, merkt man, dass es mehr um die Versatzstücke des Dramas geht als um seine Figuren. So ist er im Kleinen groß und im Großen unbeholfen.

Vor zwanzig Jahren hätte man „Frère et sœur“ als Nachzügler in die Tradition französischer Gesellschaftspanoramen eingereiht. In­zwi­schen wirkt seine Erzählweise aus der Zeit gefallen. Seit der Jahrtausendwende haben sich die alten Meister der Nouvelle Vague von der Bühne des Kinos verabschiedet, und jetzt sind ihre Schüler an der Reihe. Arnaud Desplechin, Jahrgang 1960, ist dafür ein passendes Beispiel. Seine letzten acht Spielfilme liefen im Wettbewerb von Cannes, 2016 war er Mitglied der Jury. An der Croisette wird es Zeit für einen Generationenwechsel.

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