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#Eine Frau, die Epoche gemacht hat

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„Eine Frau, die Epoche gemacht hat“

Rasend, in charmantestem Wienerisch, von stetem Lachen durchsetzt, das freilich in der Sache selbst überhaupt keinen Spaß vertrug, konnte sich Alice Harnoncourt auch mit über neunzig noch am Telefon empören über die musikalische Dummheit der Fachwelt: „Sagen’S, wie deppert muss denn einer sein, der an einer Musikhochschule Gesang studiert und auch nach vier Semestern noch nix g’hört hat von musikalischer Rhetorik und von Figurenlehre?!“ Dass musikalische Interpretation unterrichtet würde nach Schönheits- und Klangidealen, die man für überzeitlich hält, die aber in Wahrheit auf dem Vergessen von klanglichen Codierungen sprachlicher und gestischer Bedeutungen beruhen, was letztlich zu einem in Bequemlichkeit wurzelnden geistfreien Genuss führe, das trieb sie bis zum Schluss auf die Palme.

Alice Harnoncourt, geboren am 26. September 1930 als Alice Hoffelner, war eine leidenschaftliche Pionierin dessen, was man so landläufig „historische Aufführungspraxis“ nennt und womit man das Spiel auf Originalinstrumenten nach überlieferten Spieltechniken meint, wohinter aber der dringende Wunsch stand, älterer Musik eine Sprachfähigkeit zurückzugewinnen, die uns in unserer Gegenwart berührt, erschüttert, gar in einer produktiven Weise schockiert.

Ihr Mann, der Cellist und Dirigent Nikolaus Harnoncourt, mit dem sie bis zu dessen Tod 63 Jahre lang verheiratet gewesen war, besaß die enorme forscherische Energie, charismatische Ausstrahlung und plastische Verbalisierungsgabe, dieses Programm zu konzipieren, zu verkörpern und in Schriften zu kodifizieren. Alice Harnoncourt, als exzellente Geigerin, die in ihrer Jugend Kammermusik mit dem Pianisten Friedrich Gulda gemacht und unter anderem bei Jacques Thibaut in Paris studiert hatte, konnte dieses Programm spielerisch umsetzen, anderen Kollegen vermitteln, in Orchesterpraxis verwandeln.

Als Frauen noch ihren Ehemann um Erlaubnis zur Berufstätigkeit fragen mussten und in Orchestern gar nicht erwünscht waren, wurde Alice Harnoncourt erste Konzertmeisterin Österreichs beim Concentus Musicus Wien, den ihr Mann mit Gleichgesinnten gegründet hatte. Später war sie bei Interpretationskursen dabei und bei anderen Orchestern, mit denen ihr Mann arbeitete, etwa der Philharmonia Zürich, um den Streichern alle Finessen der „Musik als Klangrede“, wie der Titel des berühmtesten Buches von Harnoncourt lautet, beizubringen. In der Sache mit ihm grundsätzlich einig, hat sie ihn in den Details der Praxis auch beraten und korrigieren können. „Mein Mann suchte und brauchte Widerspruch. Zustimmung hat ihn irritiert“, umriss sie noch kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag die Basis ihres ungewöhnlichen Zusammenlebens.

Ihre wohl berühmteste Aufnahme waren die zwölf Konzerte op. 8 von Antonio Vivaldi mit dem Concentus Musicus Wien unter der Leitung ihres Mannes und mit ihr selbst als Solistin. In den „Vier Jahreszeiten“ spielt sie malerisch und gestisch den ganzen bildhaften Charakter der Musik bis ins Extrem aus: Vogelzwitschern, Liebesgirren, karnevaleske Präsentationen des Körpers, die an fast obszöne Harlekinaden denken lassen, Trauer, Trunkenheit, Sturm und Kälte – das alles in einem Feuerwerk der Strichwechsel und Farbkontraste. Als der Geiger Gidon Kremer, gerade aus der Sowjetunion emigriert, sie damit hörte, war er bis in die Knochen verstört, weil es allem widersprach, was er gelernt hatte, er zugleich aber fühlte, dass Alice Harnoncourt im Recht war.

Aus einem modernen, bildungshungrigen Elternhaus stammend – der Vater war Graphologe, die Mutter Übersetzerin und Journalistin – war Alice Harnoncourt früh selbständig geworden und blieb es auch in ihrer Ehe, obwohl sie sich – ohne Waschmaschine, wie sie betonte – um vier Kinder kümmern musste, Notenmaterial in der Ära vor dem Kopierer selbst hatte abschreiben müssen und ihrem Mann nicht nur bei Proben, Kursen und Konzerten, sondern auch beim heimischen Einrichten des Stimmenmaterials zur Seite stand.

Nach dem Tod ihres Mannes gab sie aus dem Nachlass noch dessen Texte über die Entstehung des Concentus Musicus und über dessen eigene Familie heraus. Sie entdecke täglich neue interessante Manuskripte, erzählte sie noch im vergangenen Sommer. Und als bislang ungesendete Mitschnitte von Vorträgen ihres Mannes aus den siebziger Jahren in deutschen Rundfunkarchiven auftauchten, wurde sie zum Schluss ganz modern und produzierte daraus jüngst noch eine Podcast-Reihe für den ORF.

Am Morgen des 20. Juli ist Alice Harnoncourt im Kreis ihrer Familie friedlich eingeschlafen. Sie wurde 91 Jahre alt. Ihre Leistung als Geigerin, Orchestererzieherin, Rollenmodell für berufstätige Frauen war epochal.

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