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#Empathie einer gefrorenen Kartoffel

„Empathie einer gefrorenen Kartoffel“

Die elegante Untertreibung ist Emma­nuel Carrères zentrales Stilmittel. Wer „Yoga“, dem Titel seines neuesten Romans, folgt und ein sanftes, spirituelles Buch erwartet, sollte durch den Vorgänger „Alles ist wahr“ (2009) gewarnt sein: Dort berichtet Carrère vom Tsunami des Jahres 2004, dessen Zeuge er auf Sri Lanka wurde, und fügt ätzende Seitenhiebe auf eine Gruppe von schweizerdeutschen Ayurveda-Anhängern ein, die in Chaos und Leid ihren Übungen nachgehen, als wäre nichts geschehen. Im neuesten Roman nun bricht abermals Zerstörung ein: Das Projekt eines Yoga-Buches wird durch die physische Gewalt islamistischer Attentate und die psychische eines depressiven Zusammenbruchs sabotiert. Am Ende ist alles brüchig: Stil, Buchprojekt und Psyche.

Zum Ausgangsprojekt: Mit dem Vorhaben, das eigene Ego zu disziplinieren und „ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga“ zu schreiben, geht der Icherzähler im Januar 2015 ins Morvan, um dort einen Vipassana-Kurs zu machen. Die Vor­gabe: zehn Tage Isolation, Schweigen, Diät, Meditation. Er beschreibt die ersten zwei Tage und flicht ein, was Tai-Chi und Yoga für ihn bedeuten; er versucht sich an Definitionen, berichtet von Erlebnissen, etwa einer Tai-Chi-Stunde in Kanada, die ein Wolf beobachtet, oder einer heißen Sex-Affäre nach einem Intensivkurs. Er schildert sich und die anderen auf der Suche nach innerem Frieden: ein Car­rère-Paradestück, das, scheinbar harmlos, das Menschlich-Allzumenschliche mit ätzendem Verständnis auslotet und sich selbst einen verdienten Platz als „Berg mit Kühen-Meditierer“ sichert.

Krise und Zusammenbruch

Der erste Teil endet abrupt: Die „Charlie Hebdo“-Attentate zwingen den Erzähler zur Abreise, weil er die Grabrede auf seinen ermordeten Freund Bernard Maris halten muss. Die Krise mündet in einen psychischen Zusammenbruch, ohne dass Chronologie und Kausalität klar würden – eine eigenartige Lücke. Jedenfalls durchlebt er eine Depression, die zu einem viermonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie führt. Man diagnostiziert bei ihm Tachypsychie – „etwas wie Herzrasen, nur für geistige Aktivitäten“ – als Teil einer Bipolar-II-Störung; wegen der Suizidwünsche durchläuft der Erzähler eine Elektro­konvulsionstherapie. Teil vier und fünf berichten vom schweren Neuanfang: Der Erzähler hilft auf einer griechischen Insel dabei, Flüchtlingsjungen zu unterrichten. Abschließend berichtet Carrère von den letzten Kontakten mit seinem langjährigen Verleger Paul Otchakovsky-Laurens und der Niederschrift des Romans, die nach mehreren Anläufen endlich gelingt.

Emmnuel Carrère. „Yoga“. Roman.


Emmnuel Carrère. „Yoga“. Roman.
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Bild: Verlag

Nach „Das Königreich“ (2014) war „Yoga“ ein lang erwartetes Werk und ein Favorit auf den Prix Goncourt 2020. Da brach im September des Jahres eine Polemik los, die unter anderem die Frage aufwarf, ob „Yoga“ überhaupt ein Roman ist. Als Gerüchte von Eingriffen kursierten, die Textlücken erklären würden, machte die Journalistin Hélène Devynck, von 2011 bis 2020 Carrères Ehefrau, von ihrem Recht auf Gegendarstellung Ge­brauch. In „Vanity Fair“ erinnerte sie an den Vertrag, der Carrère verbiete, ihr Privatleben ohne ihre Einwilligung öffentlich zu machen. „Yoga“ habe diese Vereinbarung nicht respektiert und verzerre die Wirklichkeit: Wenige Tage mit Flüchtlingen seien zu zwei Monaten ge­dehnt und zeitlich verschoben worden (tatsächlich hätten sie vor dem Psychiatrie-Aufenthalt stattgefunden); aggres­sives Verhalten während der Krankheit werde heruntergespielt, die familiäre Unterstützung unterschlagen. Die Polemik kostete wohl die Goncourt-Chancen.

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