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„Geschichte in Person“

Thomas Sanderling – stundenlang kann man sich mit ihm über die erstaunlichsten Dinge unterhalten – steckt voller Geschichten. Das ganze, komplexe Verhältnis von Deutschen, Juden und Russen im zwanzigsten Jahrhundert steht als Person vor einem, wenn man ihm begegnet. Vor einem Jahr war er eingeladen worden nach Babyn Jar, in die „Weiberschlucht“ am Stadtrand von Kiew, wo 1941 ein entsetzliches Massaker an den Juden durch die deutschen Besatzer verübt worden war, auch unter Beteiligung Einheimischer. Sanderling leitete dort, aus Anlass des Besuches des deutschen Bundespräsidenten zur Neugestaltung der Gedenkstätte, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin bei einer Aufführung der dreizehnten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch – „Babi Jar“, nach einem Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko, das auch den Antisemitismus in der Sowjetunion thematisiert hatte.

Sanderlings Vater, der Dirigent Kurt Sanderling, war als Jude 1936 von den Nazis aus dem Deutschen Reich ausgebürgert worden und hatte für sich keinen anderen Ausweg gesehen, als in Stalins Sowjetunion zu fliehen, wo ein Onkel lebte und wo er 1941 Nina Schey heiratete. Die jungen Eheleute hatten mit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion begonnen, Veronal zu horten, um den Nazis nicht lebend in die Hände zu fallen. Nachdem man sie aus Moskau nach Alma-Ata gebracht hatte, wollten sie – erschöpft von Angst und Flucht – Ende November 1941 die Überdosis Veronal nehmen, als sie die Nachricht erreichte, sie würden nach Nowosibirsk gebracht und Kurst Sanderling könne dort als Dirigent mit den Leningrader Philharmonikern arbeiten. Ein knappes Jahr später, am 2. Oktober 1942, kam Thomas Sanderling in Nowosibirsk zur Welt.

Vor einem Jahr ist Thomas Sanderling, der 1960 in die DDR, 1983 in den Westen ging und seit langem in London lebt, in Russland auf Platz eins bei der Umfrage nach „Russlands herausragenden Deutschen“ gewählt worden. Seit 2002 nämlich war er ständiger Gastdirigent, seit 2017 Chef des Akademischen Symphonieorchesters Nowosibirsk, eines der Spitzenorchester Russlands, gewesen. Doch Anfang März 2022, kurz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, legte er sein Amt nieder. „Mir wurde nur noch schlecht, wenn ich die russischen Nachrichten über den Krieg, der nicht so heißen durfte, im Fernsehen sah. Wäre ich geblieben, hätte ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen können“, erzählte er im Gespräch mit der F.A.Z.

Als junger Mann hatte er mit Hans Swarowsky, Herbert von Karajan und Leonard Bernstein gearbeitet, vor allem aber mit dem eigenen Vater einen der großen Dirigenten des zwanzigsten Jahrhunderts an der Seite gehabt. Sanderling versteht, was immer rarer wird, noch etwas von der Einheit des Grundtons in einem Werk, der sich nicht verlieren darf in der Oberfläche von tausend interessanten Einzelheiten. In seiner Interpretation der vierten Symphonie von Johannes Brahms hört man mit dem ersten glutvoll-traurigen Ton, dass diese Musik von Anfang an um ihr Ende weiß, dass sie gleichsam gegen ihren eigenen Widerstand noch einmal in die Zeit, ins Erklingen eintritt, dass sie – getreu den von Brahms später vertonten Bibelworten – es gleichsam vorzöge, nicht zu sein, aber aus dieser Spannung von Nichtsein-Wollen und Sein-Müssen eine herzenswarme, elegische Schönheit, eine tröstliche Gefährtenschaft entstehen lässt.

Sanderling hat sich um das Werk von Mieczysław Weinberg verdient gemacht, dessen Oper „Der Idiot“ mit der Uraufführung in Mannheim zum Durchbruch verholfen, dessen Symphonien außerhalb Russlands zur Erstaufführung gebracht. Auch dem Orchesterwerk von Tschaikowskys Meisterschüler Sergej Tanejew verhalf er mit emphatischen, klangschönen Einspielungen, die gerade bei Naxos neu aufgelegt wurden, zu mehr Achtung. An diesem Sonntag wird Thomas Sanderling, ein Mann von Können und Anstand, achtzig Jahre alt.

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