Friedrich Merz wird Bundeskanzler: Der Tag im Protokoll
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Am Ende ist es doch so, wie es von Anfang an vorgesehen war. Um 16.16 Uhr sagt ein erleichtert wirkender Friedrich Merz: „Frau Präsidentin, ich bedanke mich für das Vertrauen und ich nehme die Wahl an.“ Julia Klöckner, die Bundestagspräsidentin und Christdemokratin wie Merz, verkündet zuvor, dass von 618 Bundestagsabgeordneten 325 dafür gestimmt hätten, dass Merz der nächste Bundeskanzler werden solle. Eine Traube von Gratulanten schart sich umgehend um den neuen Regierungschef. Die Parteifreunde, natürlich, Lars Klingbeil, der SPD-Vorsitzende, der Merz’ Vizekanzler werden soll, Grüne, aber auch die AfD-Spitze.
Eigentlich hätte die Wahl um diese Uhrzeit längst über die Bühne sein, hätte Merz das Kanzleramt schon von Olaf Scholz übernommen haben sollen. Aber am Vormittag, nach Auszählung des ersten Wahlgangs, fallen zwei Sätze, die nicht vorgesehen waren. „Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen nicht erreicht“, sagt Klöckner im Plenum kurz nach zehn Uhr. „Er ist gemäß Artikel 63 Absatz 2 des Grundgesetzes zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht gewählt.“ Merz fällt im ersten Wahlgang durch.

630 Abgeordnete hat der Bundestag, Union und SPD kommen auf 328 Abgeordnete – 310 Stimmen erhält Merz. Klöckner trägt diese Zahlen mit starrer Miene vor. Olaf Scholz bleibt doch noch etwas länger Kanzler, als es zu erwarten gewesen wäre. Er läuft kopfschüttelnd durch die Reihen des Plenums. Auf den Zuschauertribünen schauen sich Dutzende Botschafter verblüfft an. Angela Merkel sitzt regungslos auf einer der Zuschauertribünen, wie auch wenige Meter weiter die Familie von Merz. Nur in den Reihen der AfD scheint die Stimmung bestens zu sein. Klöckner unterbricht die Sitzung.

Am Dienstagmorgen, acht Uhr, ist die Welt noch in Ordnung. Alles beginnt nach Plan. Scholz geht lächelnd auf der Fraktionseben im Reichstag zu seiner SPD-Fraktion, auch die CDU/CSU-Fraktion ist zusammengekommen zum Zählappell, und ihre Teilnehmer vermelden nach wenigen Minuten aus der Sitzung: alles gut, alle 208 Abgeordneten sind da. Zwei Stunden später, um 10.05 Uhr, ist dann nichts mehr gut – und zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ist mit Friedrich Merz ein angehender Kanzler nicht im ersten Wahlgang gewählt worden. Fassungslosigkeit macht sich breit, lauter Fragen stellen sich. Wer ist schuld? Wie geht es weiter?
Die Frage nach der Schuld
Schnell verlagert sich das Geschehen vom Plenarsaal zwei Etagen höher auf die Fraktionsebene. Merz kommt mit dem Fraktionsvorstand im Büro des Fraktionsvorsitzenden zusammen, auch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil ist dabei. Lange besteht Unklarheit, ob es am Dienstag noch zu einem zweiten Wahlgang kommt. Übereinstimmende Meinung ist aber: Es darf keine Hängepartie geben.
Klar ist jedenfalls, dass Merz bei einem zweiten Wahlgang die Kanzlermehrheit braucht. Ein zweiter Wahlgang muss fristgerecht angemeldet werden, das würde erst zum Freitag gehen. Oder: Mit einer Zweidrittelmehrheit wird die Frist ausgesetzt, und man könnte zum Beispiel Mittwoch zum zweiten Mal wählen – oder sogar schon am Dienstag. Merz geht erst mal in den Fraktionssaal, wo sich die Unionsabgeordneten versammelt haben. Er sagt nichts, er habe aber gefasst gewirkt, berichten Teilnehmer. Merz erhält Applaus im Stehen. Alles dauert nur wenige Minuten, dann gehen die Gespräche im Büro der Fraktionsführung der Union weiter. Es wird Kontakt aufgenommen zu Grünen und Linken. Das erste Signal aus den Unionsreihen: heute keine Abstimmung mehr. Es soll noch anders kommen.
Klingbeils SPD: Hat sie „gestanden“?
Auch Klingbeil geht zu seinen Abgeordneten in den Fraktionssaal, noch ist er Fraktionsvorsitzender. Er hält eine ernste Ansprache. Er habe nicht den geringsten Hinweis, dass die SPD nicht vollständig für Merz „gestanden“ habe, so drückt er es aus. Alle 120 Abgeordneten seien beim Zählappell am Morgen anwesend gewesen. Doch dann redet er den eigenen Leuten doch ins Gewissen. 85 Prozent der SPD-Mitglieder hätten sich für den Koalitionsvertrag ausgesprochen. Das sei ein Auftrag an die Fraktion. „Und sie erfüllt diesen“, sagt Klingbeil nach Teilnehmerangaben. „Auf uns ist Verlass.“ Dann fällt das Wort Staatskrise. Ob von Klingbeil oder anderen Abgeordneten, ist unklar.
Wenig später kommen die SPD-Abgeordneten und Ministerpräsidenten aus dem Fraktionssaal. Die Miene von Manuela Schwesig, der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, ist versteinert. „Ich bin sehr enttäuscht“, sagt sie. Aber wer hat Friedrich Merz die Stimmen verweigert? Schwesig sagt, sie vertraue den SPD-Kollegen. „Das, was heute passiert ist, ist unverantwortlich.“ Bundesinnenministerin Nancy Faeser rauscht in den Aufzug, zurück ins Ministerium, das sie eigentlich am Nachmittag ihrem Nachfolger Alexander Dobrindt von der CSU übergeben sollte. Noch ist der Termin nicht abgesagt. „Ich hätte mir die Situation anders gewünscht.“
Auch wenn die SPD beteuert, geschlossen für Merz gestimmt zu haben – beweisen kann sie es nicht. Es war eine geheime Abstimmung. Waren es also doch vielleicht enttäuschte Abgeordnete, die sich bei der von Klingbeil freihändig vorgenommenen Postenvergabe übergangen fühlten? Die sich darüber ärgern, dass der beliebte Hubertus Heil nichts geworden ist? Alles möglich, aber alles Spekulationen.
In der CDU will man den Verdacht lenken
Spekuliert wird in diesen Minuten überhaupt viel. Johann Wadephul, der schon die ersten Reisen als Außenminister geplant hatte – am Mittwoch sollte es zusammen mit Merz zunächst nach Paris und Warschau gehen – beweist sich hingegen als Diplomat: „Der Vorgang ist ärgerlich.“ Er sei aber auch kein Drama. Das könne passieren in der parlamentarischen Demokratie. Wadephul weiß das ganz genau, er war im Landtag von Kiel dabei, als Heide Simonis auch nach vier Wahlgängen 2005 noch immer nicht zur Ministerpräsidentin gewählt war und schließlich aufgab. Der sogenannte Heide-Mörder wurde nie überführt.
Die Suche nach den Schuldigen der ersten Merz-Niederlage beginnt schnell bei der Union. Zunächst wird versichert, alle Abgeordneten von CDU und CSU hätten für Merz gestimmt. Das liege in der DNA des Konservativen, sagt einer. Soll heißen, selbst diejenigen, die Merz gegenüber kritisch seien, hätten ihm ihre Stimme gegeben, und sei es mit der Faust in der Tasche. Damit scheiden CDU und CSU schon mal als Schuldige aus. Zumindest aus Sicht von CDU und CSU.
Dann folgt der erklärende Teil. Vielleicht hätten diejenigen, die nicht für Merz gestimmt hätten, dies in der Annahme getan, man könne auch bei der Wahl des Bundeskanzlers problemlos mehrere Wahlgänge an einem Tag hintereinander anberaumen. Die erste Niederlage für den CDU-Vorsitzenden wäre dann ein Denkzettel gewesen, im zweiten hätte er eine Mehrheit gehabt. Alles kein Weltuntergang. Wer so gedacht habe, habe die Geschäftsordnung des Bundestages nicht im Blick gehabt. Obwohl es heißt, Merz hätte mit Abweichlern gerechnet und sei gefasst, sehen sie in der Union doch, welche Folgen das Scheitern im ersten Durchgang hat. Für den Blick des Auslands auf Deutschland, für die Börsen und so weiter.

Jens Spahn, der am Montag gewählte neue Vorsitzende der Unionsfraktion, habe ausdrücklich vor den Abgeordneten darauf hingewiesen, dass eine schnelle Wiederholung am Dienstag nicht ohne Weiteres möglich sei. So erzählen es zwei Teilnehmer der Sitzung. Auf die Frage, wie nachdrücklich das Klingbeil nach Einschätzung der Union gemacht habe, bekommt man Antworten, dass man das so genau nicht wisse. Noch sind keine direkten Vorwürfe an die Sozialdemokraten zu hören. Aber die Unionsseite klingt so, als vermute sie die Schuldigen bei der SPD. Oder wolle zumindest den Verdacht in diese Richtung lenken.
Und dann sprechen sie mit den Linken
Unterdessen wird weiter geredet am Dienstag. Viele mit vielen, Fraktionsvorsitzende, Parlamentarische Geschäftsführer, Parteivorsitzende. Die Parteispitzen telefonieren auch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Union und SPD zielen darauf, schnell einen zweiten Wahlgang anzusetzen. Grüne und Linke scheinen aufgeschlossen. Also reden Union und SPD mit ihnen, um eine Zweidrittelmehrheit zu bekommen.
Als es um die Billionenschulden ging zum Ende der vorigen Legislaturperiode, war oft daran erinnert worden, dass es so kommen würde. Damals hatte wohl niemand damit gerechnet, dass es so schnell geschehen würde, ausgerechnet bei der Kanzlerwahl. Mit einem jedoch, so wird in der Union versichert, redet man nicht: mit der AfD. Aber wie passt es eigentlich zum Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU, wenn man dafür mit der Linken redet? Demokratie gehe vor, hört man aus der Union. Und schließlich habe man auch andere Dinge im Bundestag schon zusammen geändert wie Hausordnungen.

So zeichnet sich am frühen Nachmittag ab, dass die Linken und Grünen eine Fristverkürzung unterstützen. Die Linken verfolgen dabei durchaus auch ein Eigeninteresse: ein fristgerechter zweiter Wahlgang am Freitag würde mit dem Auftakt des eigenen Bundesparteitags in Chemnitz kollidieren. Die Parteivorsitzende Ines Schwerdtner sagt im Fernsehen, man sei „zu diesen Gesprächen bereit, weil wir natürlich auch wollen, dass es hier normales Verfahren gibt, dass sich nicht die AfD als diejenigen inszenieren können, die hier den Kanzler wählen“.
Die Grünen deuten auf einen wunden Punkt
Die Grünen-Fraktionsvorsitzenden Gerda Haßelmann und Katharina Dröge sagen am Mittag vor der Presse, man sei bereit Verantwortung zu übernehmen für die parlamentarischen Abfolge. Sie würden Merz und Klingbeil aber natürlich nicht helfen, ihre Mehrheit für die Kanzlerwahl zusammenzubekommen. Das Vertrauen in Merz und die Koalition sei erschüttert durch diesen Wahlvorgang, sagt Haßelmann. Dröge erwähnt den morgigen Tag für einen möglichen zweiten Wahlgang. Da laufen aber schon Gespräche, ob man es nicht doch gleich noch am Dienstag macht, wenn die Zweidrittelmehrheit schon sicher ist.
Dann die Einigung: Zweiter Wahlgang um 15.15 Uhr. Die für den Tag geplanten Termine, beim Bundespräsidenten, die Amtsübergaben in den Ministerien und im Bundeskanzleramt, werden auf unbestimmte Zeit nach hinten geschoben – als wohl wichtigster die Amtsübergabe von Scholz zu Merz. Und als hätten sie im Schloss Bellevue schon etwas geahnt, hieß es auf der Einladung für die Ernennung der neuen Minister von Anfang an: „Für den Fall“, dass es am Dienstag zu einer Wahl des Bundeskanzlers kommt. In der Union und der SPD heißt es: Wenn es zu dieser Wahl nicht käme, dann wäre das ein Geschenk an die AfD.
Die AfD kann ihr Glück kaum fassen
Als ein solches hat die Partei den Morgen im Plenum ohnehin schon empfunden. Ihr Glück schien sie kaum fassen zu können: Merz wird nicht gewählt – ein willkommener Anlass für die AfD, wieder über die vermeintliche Inkompetenz der angehenden Koalitionäre herzuziehen. Merz habe die Quittung bekommen für seine „Machenschaften“ und den „ungeheuren Wahlbetrug“, sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, in einem Youtube-Video, das er spontan im Bundestag aufnimmt.
Es sei eine „gute Sache“, dass Merz gleich von Anfang an beschädigt sei, sagt Baumann weiter. Jetzt schaue man mal, wie es weitergehe. Auch der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla spricht im Bundestag vor Journalisten von einem „guten Tag“, seine Ko-Vorsitzende Alice Weidel diffamiert Merz dort als „Wahlbetrüger und Lügner“. Es zeige sich jetzt schon, wie instabil die künftige Regierung sei. Das „langsame Sterben“ von Merz solle lieber jetzt beendet werden, der Kanzlerkandidat solle den Weg frei machen für Neuwahlen.
Für die Partei ist jede Schwäche, jedes Stolpern, jede Niederlage von Union und SPD eine Gelegenheit, sich bestätigt zu sehen. Mehrere AfD-Politiker äußern gegenüber Journalisten die Hoffnung, dass auch Abgeordnete aus der Union Merz das Ja verweigert haben könnten. Das würde dann zu deuten sein als Absetzbewegung gegenüber dem eigenen Chef und Annäherung an die AfD. Doch ob Nein-Stimmen für Merz aus der Union kamen – und wenn ja, ob dessen Festhalten an der Brandmauer zur AfD eine Rolle dabei gespielt hat –, bleibt völlig offen.
Gerade deshalb scheint es der Partei, die vom Verfassungsschutz seit wenigen Tagen als gesichert rechtsextremistisch eingestuft ist, wichtig, schnell ihre Deutung des Geschehens möglichst weit zu verbreiten. „Gegen den Willen des Volkes“ komme man eben nicht zum Erfolg, sagt der Abgeordnete Hannes Gnauck aus Brandenburg. Merz könne nicht mal Union und SPD hinter sich versammeln. „Wie will dieser Mann ein ganzes Land führen?“ Der Weg sollte nun frei gemacht werden „für eine AfD-Regierung“. Er spricht von einer von der AfD geführten Bundesregierung unter einer Bundeskanzlerin Alice Weidel.
Der erste zweite Wahlgang
Im Plenum zeigt der Bildschirm an, dass die Sitzung im 15.15 fortgesetzt wird. Union und SPD kommen vorher abermals zu einer Fraktionssitzung zusammen. Nach 15 Uhr füllen sich wieder die Reihen der Abgeordneten, ebenso wie die Zuschauertribünen. Auch die Familie von Merz nimmt wieder Platz. Wie am Morgen spricht Klöckner zu Beginn zu den Abgeordneten. Am Morgen hatte sie noch gut gelaunt mit der Bemerkung eröffnet: „Ich freue mich, dass sie alle da sind“, und: „Sieht sehr gut gefüllt aus“. Am Nachmittag sagt sie: „Ich bedanke mich ob ihrer Geduld.“ Sie trägt vor, dass Union, SPD, Grüne und Linke zusammen beantragen, die Frist auszusetzen, damit ein zweiter Wahlgang stattfinden kann.
Eine kurze Geschäftsordnungsdebatte folgt. „Es ist ein gutes Zeichen, wenn heute ein zweiter Wahlgang möglich ist“, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion Steffen Bilger. Die AfD bezeichnet Merz als gescheitert und sagt, dass man trotzdem dem zweiten Wahlgang zustimme, Deutschland brauche eine Regierung. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken, Christian Görke, sagt, man bringe nur zusammen den Antrag zu Geschäftsordnung ein, das sei keine Zustimmung zu der Politik von Union und SPD. Man wolle Klarheit, wie es mit dem Land weitergehe.

Die Mehrheit steht, um die Frist auszusetzen. Ohne Gegenstimmen. Der zweite Wahlgang zur Kanzlerwahl beginnt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik.
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