Gibt es Jianwei Xun wirklich?

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Über Xun ist wenig bekannt. Laut seiner Website jianweixun.com soll er ein in Hongkong geborener Kulturanalytiker und Philosoph sein und an der Schnittstelle zwischen Medien, Erzähltheorie und Philosophie forschen. Studiert haben soll er in Dublin; mehr ist nicht bekannt. Das ist seltsam für einen Forscher. Sein auf der Website angepriesenes Buch „Hypnocracy. Trump, Musk and the New Architecture of Reality“ ist laut internationalem Bibliothekskatalog WorldCat inexistent, allerdings führen wohl zwei italienische Bibliotheken eine italienische Printausgabe.
Schaut man dort hinein, findet man einen rund 120 Seiten langen Text ohne Quellennachweise oder Fußnoten. Auch ein Literaturverzeichnis fehlt.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit KI-generiert
Diese Tatsache wird nun auch besagtem NZZ-Podcaster in einem sozialen Medium vorgeworfen. „Nur kurzes eigenen Recherchieren zeigt, dass das alles clever klingt, aber leider keinerlei akademischen Standards entspricht. Da werden in dem ‚Buch‘ Studien und Forscher angeführt, die es gar nicht gibt und auch die eigene Institutionszugehörigkeit stellt sich mit einer Suche als Nonexistent raus“, schreibt ein Professor. Sein Fazit: „Cleverer Term, aber leider alles komplett Bullshit. Da gibt es längst äquivalente, seriöse Arbeiten auf die man sich berufen kann. Bisserl bessere Quellenanalyse lohnt ab und an.“ NZZ-Podcaster Joseph de Weck antwortet: „Ob es den Autor gibt oder das Ganze von einem Kollektiv oder Darkweb kommt, ist eine interessante Frage, aber meine Erachtens für mich nicht wirklich relevant. Die Argumente sind stark, es ist ein Text aus dem Bauchgefühl heraus geschrieben. Das erklärt, warum er so Anklang findet. […] Es gibt keinen wissenschaftlichen Anspruch und der Autor bezieht sich in dem Text nicht auf andere. Es ist einfach ein Essay.“
Xun gibt auf seiner Website eine Verlagsagentin und Pressesprecherin an. Wir haben der Dame geschrieben und eine Antwort des Philosophen selbst bekommen. Er schreibt der F.A.Z., in englischer Sprache: „Ich bereite mich darauf vor, am 4. April eine umfassende Erklärung zu veröffentlichen, in der genau die von Ihnen aufgeworfenen Fragen zu meiner Identität und der Art meiner Arbeit angesprochen werden. […] Die Punkte, die Sie zu meiner Biografie (und meinen institutionellen Verbindungen) ansprechen, […] verdienen eine durchdachte Antwort. Ich habe hier und da weitere Hinweise verstreut. Anstatt also jetzt nur Teilinformationen zu geben, möchte ich Sie einladen, zu den ersten zu gehören, die am 4. April die vollständige Erklärung erhalten, die alle Aspekte meines Projekts, einschließlich seiner Urheberschaft, klären wird.“
Eine Spur führt zu seinem Übersetzer
Das Tool ZeroGPT, das allerdings nicht immer zuverlässig ist, gibt an, dass diese E-Mail mit einer Wahrscheinlichkeit von 65,5 Prozent KI-generiert oder KI-verbessert ist. Dafür spricht auch die Nutzung ausgefallener englischer Begriffe. „Diligence“ ist, außerhalb der Betriebswirtschaftslehre, ein seltenes Wort; auch „perceptive“ and „thoughtful response“ sind außergewöhnlich. Begriffe wie „Nuanced story“ und „piecemeal“ werden in normaler Konversation selten benutzt. Auch die Headerinformationen der E-Mail verraten nur wenig weitere Details, die nicht abschließend klären lassen, ob es sich bei Xun um einen Menschen oder eine KI handeln.
Xuns These ist: „In der Ära der Post-Wahrheit und künstlichen Intelligenz funktioniert Macht nicht mehr durch Repression, sondern durch die Manipulation der Realitätswahrnehmung.“ Er selbst ist vielleicht Teil eines Projekts dazu. Eine Spur führt nach Italien, zu seinem Übersetzer Andrea Colamedici. Der 1987 geborene Philosoph und Verleger beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Schnittstelle zwischen Kunst und KI. Auf eine Anfrage der F.A.Z. hat Colamedici nicht reagiert. Es spricht indes manches dafür, dass Colamedici in Wirklichkeit Xun ist. Oder doch nicht? Am 8. Dezember soll sich Xun in einer „Videobotschaft“ bei einer Konferenz der Più libri più liberi, einer Buchmesse in Rom, gemeldet haben. Da waren Colamedici und Xun gleichzeitig zu sehen. Aber Xuns Beitrag war zuvor aufgezeichnet worden.
Der Versuch, in der Öffentlichkeit das Schlagwort der „Hypnocracy“ zu verankern, ist indes gescheitert. Zwar bediente das dafür verfolgte Drehbuch die heutige Aufmerksamkeitsökonomie, die nach kurzen Erklärungen aktueller Entwicklungen giert und die Veröffentlichung von Büchern international tätiger Forscher belohnt. Doch ohne valides wissenschaftliches Fundament verfängt die These nicht. Zu offensichtlich ist zudem, dass hier versucht wurde, was beschrieben wird: Die Öffentlichkeit mit Desinformationen oder Nichtinformationen zu fluten.
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