#Heuschrecken: Schwarmverhalten funktioniert anders als gedacht

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Bewegungen in Schwärmen sind in der Natur weit verbreitet und spielen eine entscheidende Rolle im Überleben vieler Tierarten. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Wüstenheuschrecken, die in großen Kollektiven durch Afrika ziehen und mitunter ganze Ernten vernichten. Anders als bisher gedacht, folgen die Insekten aber nicht bloß passiv ihren Nachbarn, sondern agieren nach aktiven kognitiven Prozessen, um sich gemeinsam zu bewegen.
Die Schwärme von Wüstenheuschreckennymphen (Schistocerca gregaria) sind beeindruckende Naturphänomene, die als biblische Plage zweifelhafte Berühmtheit erlangt haben. Milliarden flugunfähiger Jungtiere schließen sich zu einem Kollektiv zusammen und marschieren gemeinsam über riesige Flächen in Nordafrika. Die Insekten scheinen wie ein einziger Organismus zu agieren, da ihre Bewegungen und Häutungsrhythmen perfekt aufeinander abgestimmt sind. Besonders ist, dass der Schwarm ohne erkennbare Anführung oder Hierarchie innerhalb der Gruppe funktioniert; vielmehr basiert sein Verhalten auf den Interaktionen der Individuen untereinander. Bei ihren Durchläufen fressen die Heuschrecken ganze Ernten, schädigen die lokale Landwirtschaft und bedrohen die Lebensgrundlage der dortigen Bevölkerung. Um solche Insektenplagen unter Kontrolle zu halten und Schwarmbewegungen vorherzusagen, ist es entscheidend zu verstehen, wie Heuschrecken ihre Bewegung im Schwarm koordinieren.

Wie entsteht das Schwarmverhalten?
Wie genau solche Schwärme entstehen und nach welchen Regeln sich die Tiere bewegen, ist noch nicht vollständig geklärt. Seit Jahrzehnten wurden kollektive Bewegungen durch Prinzipien aus der theoretischen Physik beschrieben, die auf „selbst-angetriebenen Teilchen“ basieren. Die individuellen Tiere werden hierbei als Teilchen betrachtet, die ihre Position und Bewegungsrichtung aneinander ausrichten. Die zentrale Vorhersage dieses traditionellen Modells wurde zuvor in Laborexperimenten mit großen Heuschreckengruppen scheinbar bestätigt. Sie besagt, dass es bei zunehmender Dichte der Tiere einen spontanen Übergang von ungeordneten zu hochgradig ausgerichteten Bewegungen gibt. Forschende gingen davon aus, dass Individuen in einem Schwarm passiv ihren Nachbarn folgen, sobald die Dichte des Schwarms zunimmt.
Forschende um Sercan Sayin von der Universität Konstanz und dem Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie haben nun mithilfe einer Kombination aus Feld- und Laborforschung sowie Virtual-Reality-Experimenten mit Heuschrecken herausgefunden, dass die Verhaltensmuster hinter der kollektiven Bewegung von Heuschreckenschwärmen nicht durch das klassische Modell erklärt werden können. „Es ist bekanntermaßen schwierig, die Mechanismen der Interaktion in mobilen Tiergruppen zu erkennen“, erklärt Seniorautor Iain Couzin von der Universität Konstanz. „Die Individuen beeinflussen sich gegenseitig und werden zugleich durch das Verhalten der anderen beeinflusst, in einem komplexen Wechselspiel.“
Schwarmforschung in dreidimensionaler VR
Um diese Herausforderung zu überwinden, verwendete das Team eine immersive, dreidimensionale, virtuelle Realität. Die Heuschrecken liefen dabei auf einer Hochgeschwindigkeitskugel mit Bewegungsausgleich, was ihnen ein Gefühl von natürlicher Mobilität vermittelte. Gleichzeitig sahen sie durch virtuelle Panoramaprojektion die realistische Simulation eines „holografischen“ Schwarms, mit dem sie interagieren konnten. „Dieser Ansatz ermöglichte es uns, Hypothesen über das Verhalten der Schwärme auf eine Art und Weise zu überprüfen, wie es in natürlichen Schwärmen nicht möglich wäre“, erläutert Sayin.
Im Widerspruch zu früheren Annahmen fand das Forschungsteam keine Hinweise darauf, dass Heuschrecken ihre Position und Bewegungsrichtung an ihren Nachbarn ausrichten. Die Bewegungen der einzelnen Heuschrecken ließen sich nicht durch die klassischen Modelle erklären. So wurden beispielsweise Heuschrecken in einem Experiment zwischen zwei virtuellen Heuschreckenschwärmen platziert, die sich beide in dieselbe Richtung bewegten. Nach gängiger Theorie hätte sich die Heuschrecke dieser Bewegung anschließen müssen. Doch statt mit dem Strom zu laufen krabbelten die Tiere frontal auf eine der beiden Gruppen zu.
Kollektives Verhalten neu gedacht
Um die Bewegungen zu interpretieren, entwickelte das Forschungsteam ein einfaches, kognitives Modell, das auf Prinzipien der Neurobiologie basiert. „Wir haben festgestellt, dass es sämtliche unserer experimentellen Schlüsselergebnisse erklären kann“, berichtet Sayin. Basis dieser neuen Theorie sind die neuronalen Schaltkreise, die Tiere für die räumliche Navigation verwenden – auch „Ringattraktor“ genannt. In diesem Modell schauen die Tiere sich nur die Position ihrer benachbarten Artgenossen an, nicht aber deren Körper- oder Bewegungsrichtung. Die Entscheidungen über ihre Bewegungen entstehen dann in einem dynamischen Prozess, bei dem die neuronalen Informationen über die Position der Tiere miteinander konkurrieren oder sich verbinden. So wird schließlich ein gemeinsamer Konsens erreicht, der bestimmt, in welche Richtung sie sich bewegen.
Nach Ansicht der Forschenden stellen ihre Ergebnisse einen wichtigen Fortschritt in der Schwarmforschung dar. Die neuen Erkenntnisse über das Schwarmverhalten von Heuschrecken könnten helfen, effektivere Strategien zur Eindämmung von Heuschreckenschwärmen zu entwickeln, insbesondere durch genauere Vorhersagen ihrer Bewegungen. Die Erkenntnisse könnten aber auch für andere Tierarten sowie die Robotik und Künstliche Intelligenz hilfreich sein, zum Beispiel indem Roboterschwärme und selbstfahrende Fahrzeuge von Algorithmen profitieren, die von den hocheffizienten kognitiven Strategien der Heuschrecken inspiriert wurden.
Quelle: Sercan Sayin (Universität Konstanz, Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, Konstanz) et al., Science, doi: 10.1126/science.adq7832
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