#Heute Terror und Chaos, früher Paradies?
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„Heute Terror und Chaos, früher Paradies?“
Kabul, Ende der Sechzigerjahre. Unbegleitete Frauen in Miniröcken bewegen sich selbstbewusst auf der Straße, es gibt Live-Jazz in zahlreichen verrauchten Clubs, man sieht und spürt pulsierendes Leben und demokratische Aufbruchsstimmung. Im Königreich Afghanistan, einem Land von erstaunlicher Naturschönheit, stehen in den Städten die Zeichen auf Emanzipation. Erstaunliche zeitgenössische Aufnahmen zeigen Weltoffenheit und aufgeklärte Urbanität, die Hauptstadt sieht in vielen Ausschnitten aus wie Paris oder London. Auf dem Land dagegen herrscht das überlieferte Patriarchat in Stammesstrukturen. Ein Land, zwei Welten.
In den nächsten Jahren wachsen die innenpolitischen Konflikte zu gewaltsamen Spannungen. Zwischen Westorientierung und marxistischen Bestrebungen verläuft eine der Konfliktlinien. Spätestens mit dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 erscheint Afghanistan als Problemfall auf der weltpolitischen Landkarte. Eine Nation, die sich nach der Machtübernahme der Taliban und dem jüngsten IS-Terror am Flughafen von Kabul im Chaos befindet. Mindestens 180 Menschen hat das Doppelattentat das Leben gekostet. Darunter dreizehn amerikanische Soldaten, die übrigen Opfer sind Afghaninnen und Afghanen, die in ihrem Land unter den Taliban keine Zukunft sahen.
Dass dieses seit Jahrzehnten von Gewalt und Terror zerrissene Land eine reiche und bewegte Geschichte lange vor den aktuellen Schreckensereignissen hatte, die zuvor nur kursorisch dargestellt wurde, zeigt die Dokumentarserie „Afghanistan. Das verwundete Land“ von Marcel Mettelsiefen („Die Kinder von Aleppo“, 2014) und Mayte Carrasco mit großer Materialfülle und zahlreichen Interviewpartnern, darunter vielen weiblichen Zeitzeugen, in aller Tiefe. Man kann die Serie in den Mediatheken von Arte und der ARD kostenlos, bei Amazon Prime und iTunes bezahlpflichtig sehen. Daneben wird sie auch im linearen Fernsehen in der nächsten Zeit einige Male wiederholt.
Genese von Besatzung und Terror
Sie ist überaus sehenswert für alle, die die momentanen Entwicklungen aus ihrer Genese heraus zu begreifen suchen. Fünfzig Jahre afghanische Geschichte und Politik, Besatzung und Terror, Frauenverfolgung und Demokratieanstrengungen nimmt „Afghanistan“ in etwas mehr als zweihundert informativen, erhellenden und erschütternden Minuten in den Blick. Funde aus zahlreichen Archiven, aktuelle Bilder und eine Fülle an Interviews bilden dabei so etwas wie eine Chronologie der Tragik Afghanistans in den vergangenen rund fünfzig Jahren. „Das Königreich“, „Die Sowjetarmee“, „Mudjaheddin und Taliban“ und „Die NATO-Truppen“ heißen die Folgen.
Beachtenswert sind die Gespräche mit afghanischen Politikerinnen, die im Widerstand gegen die islamistischen Kräfte ihr Leben riskierten und bis vor der Taliban-Machtübernahme die Zukunft des Landes aktiv mitgestalteten. Teil drei und Teil vier belegen mit drastischen Androhungen der Taliban und schließlich tatsächlich gezeigten Hinrichtungen von Frauen die Gewaltherrschaft der Islamisten und lassen an den aktuellen Sicherheitszusicherungen der Taliban-Anführer stark zweifeln.
Im letzten Jahr lief „Afghanistan“ erstmals im Fernsehen, fand viel Aufmerksamkeit und gewann in diesem Jahr einige Preise, darunter den an diesem Freitag verliehenen Grimme-Publikumspreis der Marler Gruppe. Ein Hinweis darauf, dass „Afghanistan“ keine bebilderte Geschichtsstunde für einschlägig Interessierte, sondern eine leicht zugängliche, gründliche, zwar breit ausgreifende, trotzdem überaus verständliche Dokumentation ist, multiperspektivisch montiert, mit Einlassungen von (ehemaligen) afghanischen Politikerinnen und Intellektuellen, von Taliban-Führern, russischen Militärs, CIA-Agenten, Dschihadisten und Kriegsreportern, von Journalisten und Dichtern.
Mettelsiefens und Carrascos jahrzehntelange Kenntnis und Nähe zu diesem Land ist unverkennbar. Mit der Unmöglichkeit, frei zu berichten, muss man befürchten, dass wir über das nächste Kapitel dieser Geschichte viel zu wenig erfahren.
Afghanistan. Das verwundete Land ist in der Arte- oder ARD-Mediathek abrufbar.
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