#Im Jahr der Wechselkröte
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„Im Jahr der Wechselkröte“
Um zu verstehen, wie wichtig die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt noch immer oder jetzt erst recht sind, muss man im Jahr 2022 zuerst daran erinnern, wo Literaturkritik in den öffentlich-rechtlichen Medien gerade steht: Sie ist ständig bedroht von Abschaffung oder Schrumpfung, manchmal entstellt zur Parodie. Man könnte zum Beispiel an die Folge des „Literarischen Quartetts“ vom 26. Mai denken, in der Uwe Tellkamps umstrittener neuer Roman vorgestellt wurde – beziehungsweise eben nicht vorgestellt, denn der Runde gelang es nicht annähernd, einen Eindruck dieses komplexen Werks, seiner Erzählsituation und vielleicht auch seiner Problematik zu geben, aufgrund dessen sich die Zuschauer eine eigene Meinung hätten bilden können. Stattdessen stieß man direkt vor zu unbegründeten Urteilen und zu lauter außertextuellen Dingen, mündend in die beinahe unglaublich dumme Feststellung, wer beleidigt sei, könne keine guten Romane schreiben. Dann war die in fast allen derartigen Sendungen viel zu knapp bemessene Zeit schon um.
Der Wettbewerb um den Bachmannpreis in Klagenfurt ist das Gegenkonzept zu solcher Verstümmelung von Literaturkritik – eine fast schon letzte Bastion der intensiven bis manischen Beschäftigung mit literarischen Texten über mehrere Tage am Stück, mit einer nach Gesetzen heutiger Aufmerksamkeitsökonomie fast schon verrückt langen Verweildauer bei einem Text. Eine gute halbe Stunde liest jeder der vierzehn Kandidaten, und noch einmal so lange diskutiert die siebenköpfige Jury aus professionellen Kritikern jeweils darüber. Vierzehn Stunden Literatur also, dazwischen noch Pausengespräche, alles übertragen im Fernsehen und im Internet, begleitet von Beobachtern der Beobachter, die selbst wiederum ihre Gedanken dazu veröffentlichen und weiterdiskutieren – eine Maschine der Literaturkritik mit vielen Rädchen. Und eine geballte Ladung produzierter Inhalte. Wer Bachmannpreis-Binge-Watching betreibt, also von Donnerstagmorgen bis Samstagnachmittag, kann danach ziemlich „durch“ sein, hat aber eben auch jedes Jahr eine ziemlich gute Positionsbestimmung der Gegenwartsliteratur und ihrer Kritik –for better or worse.
Debatte über den Originalitätsanspruch von Literatur
Wie vorbildlich die Klagenfurter Maschine schnurren kann, sah man in diesem Jahr etwa bei der Diskussion über den Text des 1977 in Teheran geborenen und heute in Berlin lebenden Behzad Karim-Kani, der von der Juryvorsitzenden Insa Wilke sogleich und zu Recht als Genre-Erzählung eingestuft wurde, als „Knastgeschichte“ nämlich: „Wir haben ein Milieu, das homogen erzählt wird, wir haben einen begrenzten Raum, und wir haben die Figur, die als Ausnahmefigur in diesen Raum kommt, damit plausibel wird: Sie benutzt eine gewähltere Sprache und ist gleichzeitig fähig zu reflektieren und zu beschreiben.“ Das ist eine recht akademische Beschreibung für den Erzählungssatz „Er war der einzige Iraner im Knast“, aber eine solche theoretische Grundierung ist gar nicht schlecht für eine weitere Diskussion, die sich in einer Jury aus sieben verschiedenen Temperamenten ohnehin schnell zuspitzt.
Klagenfurt, 23. Juni: Der Bachmann-Kandidat Alexandru Bulucz hört zu, wie der Bachmann-Juror Michael Wiederstein seinen Text kritisiert.
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Bild: tob
Die Haftdarstellung, minutiös beschrieben bis zur Wahnhaftigkeit, wenn der junge Mann in seiner Isolation alles durchzählt von Kniebeugen bis zu Gemüsestückchen, weckte bei den Kritikern allerlei Assoziationen von Netflix-Serien bis zu historischen Romanen und löste eine Debatte über den Originalitätsanspruch von Literatur sowie eine über den Begriff der Unterhaltungsliteratur aus. Der Autor und Kritiker Philipp Tingler, der Karim-Kani eingeladen hatte, befand, gute Literatur müsse nicht originell sein. Mara Delius gefiel der Sound der Erzählung, während ihre Kollegen sich teils daran störten, Klaus Kastberger hörte „zu viel Testosteron“, und Michael Wiederstein sah sich mit einer „Hipster-Boulangerie hinter schwedischen Gardinen“ konfrontiert. Und wer alles mitverfolgt hatte, schwankte vielleicht noch hier und da zwischen Zustimmung und Widerspruch. Insgesamt, und das soll hier der Punkt sein, war die Lesung des weitgehend sich selbst erklärenden Textes wie auch die Diskussion ein niedrigschwelliges Angebot, kategorisch über literarische Kriterien nachzudenken – und damit ein gutes.
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