#In einem Spiegel aus Eis
„In einem Spiegel aus Eis“
„Wer immer fragt nach meinem Namen, wisse,
Daß ich bin Lia, so die schönen Hände
Ringsum bewegt, sich einen Kranz zu winden.“
„Sappia qualunque il mio nome dimanda
ch’i’ mi son Lia, e vo movendo intorno
le belle mani a farmi una ghirlanda.“
(Purgatorio XXVII, 100–102, übersetzt von Philalethes)
Im Purgatorium – das Feuer ist schon durchschritten, die Begegnung mit Beatrice unausweichlich – träumt Dante einen erstaunlichen Traum. Er dauert nur fünfzehn Zeilen, und doch wiederholen sich einzelne Worte und Dinge darin mit der Beharrlichkeit einer Spiegelung. Wichtig ist hier offenbar, dass Dante und seine Begleiter an einer Grenze stehen – bald wird alles Irdische hinter dem Fluss zurückbleiben, und dieser Traum ist ein letzter Blick auf das noch nicht vom Paradies transformierte menschliche Leben. Die schöne Jungfrau Lia streift dort durch eine Wiese, sie pflückt sich Blumen für einen Kranz und singt von ihrer Schwester Rahel, die sich nicht schmücken möchte, ihr genügt es, sich endlos im Spiegel zu betrachten. Die alte Wahl zwischen vita activa und vita contemplativa ist hier außer Kraft gesetzt, der eine Weg ist nicht besser als der andere, Tätigsein und Betrachten sind zwei Seiten desselben Spiegels.
Die Schwestern sind sich so unähnlich wie Zukunft und Vergangenheit: Während Rahel sich keinen Schritt weit von ihrem Spiegel entfernt, liegt zwischen Lia und dem ihren ein zeitlicher Abstand – er wartet, bis sie geschmückt vor ihn tritt. Und weil Lias größte Freude das Tun ist (so wie Rahels Glück das Schauen; die eine hat begli occhi, die andere belle mani), bleibt ihr Spiegel immer ein leerer Wartesaal. Rahel ist das sehende Heute, Lea das noch kaum sichtbare Morgen.
„Undenkbar, Dantes Gesänge zu lesen, ohne sie zur Gegenwart hinzulenken. Dazu sind sie geschaffen. Sie sind Gerätschaften, die Zukunft einzufangen. Sie erfordern einen Kommentar im Futurum.“ Im selben Jahr, in dem er diese Zeilen schrieb, war Ossip Mandelstam bei Anna Achmatowa eingeladen; geplant war eine private Lesung mit neuen Gedichten. Der Abend kam nicht zustande – die eingeladenen Zuhörer wurden am Vortag verhaftet. Achmatowa entschuldigte sich: Tee und Brot habe sie da, nur die Gäste säßen leider im Gefängnis. Das Leben in historischen Zeiten stellt unsere im voraus zurechtgelegten Positionen in Frage: Vita activa und vita contemplativa gehen seltsame Verbindungen ein, sie spiegeln sich ineinander wie Lea und Rahel. Im Licht der allgemeinen Katastrophe scheinen die Unterschiede zwischen ihnen sich zu verwischen, übrig bleiben nur die Gemeinsamkeiten. Auch heute lassen sich Kontemplation und Aktion wieder schwer auseinanderhalten.
Der endlose Winter des zweiten Pandemiejahrs mit seinen zähen Frösten und Schneestürmen, die selbst dort wirbelten, wo sie scheinbar nichts verloren hatten – zwischen den Säulen des Parthenon, auf den Plätzen von Rom, den Straßen Jerusalems –, erinnerte abwechselnd an C. S. Lewis’ Land Narnia, wo ein böser Zauber die Zeit angehalten hat und der Frühling nicht kommen darf, und an Andersens kleinen Kay, der an einem gefrorenen See sitzt und aus Eisstücken ein sinnvolles Wort zu legen versucht – ein „Verstandesspiel“, das ihm partout nicht gelingen will. Doch tiefe Temperaturen als Metapher für Hoffnungslosigkeit gibt es in der Literatur auch schon sehr viel früher.
In der Göttlichen Komödie kommt noch ein zweiter Spiegel vor, in den aber niemand schaut: die Eisoberfläche des Kozytus, des tiefsten Punkts der Hölle, wo Sünde und Verzweiflung ihre maximale Konzentration erreichen – jener Punkt, wo die Zukunft abgeschafft und die Gegenwart unerträglich ist. Entgegen allen gängigen Vorstellungen vom Aufbau der Hölle macht Dante aus deren neuntem, letztem Kreis einen Ort extremer Kälte. Das wichtigste Charakteristikum dieses Unorts ist eine Art negative Stabilität: permanente Kälte, permanente Gefahr, permanente Unmöglichkeit jedes Gesprächs, jeder Verständigung.
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