In Istanbul könnte es jederzeit zur Katastrophe kommen
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Die zahlreichen mittelschweren Erdbeben, die sich seit vergangener Woche im Marmarameer südwestlich von Istanbul ereignet haben, sind ein Warnzeichen für die größte Stadt der Türkei und ihre etwa 16 Millionen Einwohner. Istanbul liegt nämlich unmittelbar an einer der gefährlichsten Erdbebenverwerfungen der Welt. Dass es dort zu einem schweren, womöglich katastrophalen Beben kommen wird, ist unter Geowissenschaftlern unumstritten – nur weiß niemand, wann es dazu kommen wird.
Für diese Gewissheit der Erdbebenforscher gibt es mehrere Gründe. Die Nordanatolische Verwerfung ist eine äußerst aktive Erdbebenlinie und der Ursprung vieler schwerer Beben in der Türkei. Entlang dieser tektonischen Demarkationslinie verschiebt sich die Anatolische Platte, auf der fast die gesamte Türkei und die Insel Zypern liegen, mit einer Geschwindigkeit von etwa zweieinhalb Zentimetern pro Jahr gegenüber der riesigen Eurasischen Platte nach Westen. In den vergangenen 110 Jahren ereigneten sich an der mindestens 1500 Kilometer langen Verwerfung zehn Erdbeben mit Magnituden von mehr als 6,7. Alle führten zu zum Teil schweren Zerstörungen.
Seismologen werten Pause als Ruhe vor dem „seismischen Sturm“
Das schlimmste dieser Beben gab es im Jahre 1939 in der osttürkischen Stadt Erzincan. Damals kamen 33.000 Menschen ums Leben. Seitdem wandern die Herde der schweren Erdbeben entlang dieser Verwerfung immer weiter nach Westen – und kommen dabei Istanbul immer näher. Das bislang letzte katastrophale Beben dieser Serie fand im Jahr 1999 in der nur 100 Kilometer vom Bosporus entfernten Hafenstadt Izmit statt. Damals starben dort mindestens 17.000 Menschen als Folge des Bebens, und 120.000 Gebäude wurden zerstört. Westlich von Izmit verläuft die Nordanatolische Verwerfung auf einer Länge von etwa 200 Kilometern durch das Marmarameer und kommt dabei auf der Höhe der Prinzeninseln der türkischen Großstadt bis auf 20 Kilometer nahe. In diesem Abschnitt der Verwerfung gab es in den vergangenen 250 Jahren kein zerstörerisches Erdbeben. Seismologen werten das als Ruhe vor einem „seismischen Sturm“, der katastrophale Folgen für die größte Stadt der Türkei haben könnte. Niemand kann nämlich sicherstellen, dass die strengen Vorschriften zum erdbebensicheren Bauen in Istanbul auch tatsächlich eingehalten worden sind.
Der Grund, warum es in dem durch das Marmarameer verlaufenden Abschnitt der Verwerfung schon seit Langem kein schweres Erdbeben mehr gab, ist die Tatsache, dass in diesem Gebiet die beiden Flanken miteinander verhakt sind. Anstatt sich glatt und langsam aneinander vorbeizuschieben, sammeln sich an den Verhakungen die tektonischen Spannungen an. Wird schließlich die Bruchfestigkeit des Gesteins überschritten, reißen die Verhakungen auf, und die beiden Platten bewegen sich plötzlich und ruckartig in einem Erdbeben.
Nach Schätzungen von Marco Bohnhoff, einem auf die Türkei spezialisierten Seismologen am Potsdamer Geoforschungszentrum, hat sich in den vergangenen 250 Jahren im Marmarameer derart viel Spannung angesammelt, dass es dort – wenn die Verhakungen endlich aufbrechen – zu einem schweren Erdbeben mit einer Magnitude von mindestens 7,4 kommen wird. Bei derartigen Magnituden sind die Erschütterungen des Erdbodens stark genug, dass mit katastrophalen Schäden zu rechnen ist.
Auch die oft geäußerte Hoffnung, viele kleine Beben würden zu einer mechanischen Entlastung einer Verwerfung und damit zu keinem besonders schweren Beben führen, erweist sich bei genauer Betrachtung als Fehlschluss. Weil die Stärke eines Beben auf der Magnitudenskala nämlich logarithmisch und nicht linear gemessen wird, ist die Energie in den Bodenschwingungen bei dem zu erwartenden Beben der Magnitude 7,5 mehrere Hundert Mal größer als bei einem Beben der Magnitude 6, wie es am vergangenen Mittwoch im Marmarameer stattfand. In den vergangenen Tagen gab es aber nur vier dieser mittelschweren Beben. Selbst zusammen mit den mehr als 500 mess- und spürbaren Nachbeben reicht die dabei freigesetzte Energie bei Weitem nicht aus, um die Energie des erwarteten katastrophalen Erdbebens auch nur annähernd zu kompensieren.
Den Einwohnern Istanbuls bleibt deshalb nur übrig zu warten und ihre Gebäude so weit wie möglich zu sichern. Vorhersagen lassen sich Erdbeben nämlich noch immer nicht – trotz aller Versuche der Seismologen, dabei die neuesten KI-Techniken einzusetzen. Deshalb kampieren noch immer viele Istanbuler in Parks und auf Grünstreifen.
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