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In zehn Minuten raus aus der Wohnung

Gegen Mitternacht hat es an Manfred Webers Tür geklopft. Mehrere Polizisten standen ihm gegenüber. „Was habe ich denn jetzt gemacht“, schoss es ihm durch den Kopf. Er solle sich anziehen. Das Nötigste packen. Sein Wohnhaus in Babenhausen im hessischen Landkreis Darmstadt-Dieburg musste in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch geräumt werden. Mit etwas Wäsche, seinem Portemonnaie und Hund Jacky ist Weber bei einer Bekannten untergekommen. Wie lange er nicht in seine Wohnung zurück kann, weiß er am Mittwochnachmittag noch nicht.

Massive Fassadenschäden. So lässt sich zusammenfassen, warum Polizei und Verwaltungsmitarbeiter Weber in der Nacht nur rund zehn Minuten gaben, um die Wohnung zu verlassen. Bereits eine Woche zuvor war Bewohnern eine Wölbung in der Fassade des Wohnhochhauses in Höhe des neunten Stockwerks aufgefallen. Der betroffene Bereich des Grundstücks wurde von der Bauaufsicht abgesperrt und der Schaden genauer untersucht. In der Nacht von Sonntag auf Montag lösten sich dann Ziegel in einem rund 25 Quadratmeter großen Bereich aus der Fassade vor dem Betonmauerwerk und stürzten in den abgesperrten Bereich des Grundstücks.

In vier Stunden die Evakuierung organisieren

Manfred Weber kommt am Mittwoch mit seinem Hund Jacky zurück zu seinem Wohnhaus.
Manfred Weber kommt am Mittwoch mit seinem Hund Jacky zurück zu seinem Wohnhaus.Michael Braunschädel

Im Nieselregen steht Weber nun am Mittwochnachmittag vor den Absperrzäunen. Im Hintergrund brummt der Kran, in der Höhe entfernen Arbeiter die Ziegel der Fassade. Bruchstücke fallen zu Boden. Weber schaut immer wieder hoch, stockt kurz beim Sprechen. Als ein Bruchstück eines orangefarbenen Ziegels gegen den Absperrzaun fliegt, zuckt er kurz zusammen. Auf seinem Handy sucht Weber nach Bildern vom Montag. Er wischt durch die Fotos vom Schutt, der im abgesperrten der zwei Hauseingänge verteilt lag.

Am Montag wurde bereits ein Gutachter hinzugezogen. Es gab weitere Termine mit allen möglichen Entscheidern: dem Gutachter, der Bauaufsicht, der Brandschutzdienststelle des Landkreises, dem Ordnungsamt und dem parteilosen Bürgermeister Babenhausens, Dominik Stadler. Am Dienstagabend gegen 19.15 Uhr stand fest: Es könnte zu einem weiteren Wegbrechen der Fassade kommen. Es galt, chaotische Szenen zu vermeiden und doch eine schnelle Räumung des Gebäudes zu organisieren. Außer Mieter Weber sind 186 weitere Bewohner im Wohnhaus gemeldet, die Wohnungen gehören verschiedenen Eigentümern. Nach rund vier Stunden war die Evakuierung vorbereitet und waren die Helfer von Polizei, Feuerwehr und Verwaltung sowie auch die Notunterkunft organisiert.

Zum Zeitplan lässt sich nur spekulieren

„Wir dachten, es wäre ein Erdbeben“, beschreibt Songül Öksöz den Moment, in dem in der Nacht von Sonntag auf Montag die Fassade bröckelte. Laut sei es gewesen. So laut, dass ihre im Nachbarhaus wohnende Schwester fragte, was los sei. Auf die Evakuierung aufmerksam wurde Öksöz erst durch einen Anruf ihrer Schwester. Sie schlief bereits, als das Telefon klingelte. Es sei Polizei am Wohnhaus. Dann klopfte es. Mit Medikamenten, ihren Pässen und ein paar Klamotten zogen Öksöz und ihre fünf Kinder kurzfristig bei der Schwester ein. Nur müsste sie nun in ihre eigene Wohnung, um für einen Arzttermin den Impfpass ihres Sohnes zu holen.

Doch wann die Menschen zurück in ihre Wohnungen können, weiß Bürgermeister Stadler noch nicht. „Alles wäre spekulativ“, sagt er im Gespräch mit der F.A.Z. Zwar habe es am Mittwochmorgen eine weitere Begehung gegeben, um einen Zeitplan aufzustellen, doch vor Mitte nächster Woche lasse sich eigentlich nichts sagen. Stand Mittwochabend war für den Donnerstagabend geplant, je einem Bewohner einer Wohnung einen kurzen Besuch seines Zuhauses zu ermöglichen, etwa um wichtige Dokumente wie den Impfpass zu holen.

Notunterkunft in der Stadthalle Babenhausens eingerichtet

Von den letztlich in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in dem Gebäude angetroffenen 167 Bewohnern konnten nicht alle wie Weber und Öksöz bei Bekannten und Verwandten unterkommen. Gegen 3 Uhr in der Frühe sei die Evakuierung abgeschlossen gewesen, berichtete der Bürgermeister. Rund 80 Menschen kamen in der Notunterkunft unter, die kurzfristig in der Stadthalle Babenhausens eingerichtet worden ist.

Auf dem Parkplatz vor dem blassen Gebäude herrscht am Mittwochnachmittag reges Treiben, in der Tür stehen Menschen und telefonieren. Über den Raum sind die Feldbetten verteilt, auf jedem liegen eine blaugemusterte Decke und ein hellblaues Kissen. Viele Menschen suchen Ruhe, einige versuchen zu schlafen. Aus dem Nachbarraum klingen Kinderstimmen. Vom Jugendzentrum organisiert, basteln die Kinder, können unter anderem „Aladdin Memo“ oder „Husch Husch kleine Hexe“ spielen.

Nadiri Zeinab sortiert ihren Koffer: die Klamotten, die Spardose der Kinder, die Medikamente. Was sie schnell greifen konnte. Ihre Tochter malt derweil auf ihrem grünen Feldbett noch an ihrer Hausaufgabe. Zwei ihrer drei Kinder gehen zur Schule, sie hätten nur zwei Stunden geschlafen, sagt die Mutter. Es sei laut gewesen. Wie sollen die Kinder sich nach so wenig Schlaf im Unterricht konzentrieren? Zeinab hat der Lehrerin geschrieben, damit die verstehe, dass der Tag für die Kinder schwierig sei. Sie wünscht sich Ruhe für die Kinder. Doch sie habe keine Familie in der Gegend, wisse nicht wohin, sagt sie. So bleibt ihr nichts anderes, als zu warten.

Nadiri Zeinab ist mit ihren Kindern vorerst in der Stadthalle untergekommen.
Nadiri Zeinab ist mit ihren Kindern vorerst in der Stadthalle untergekommen.Michael Braunschädel

Stadler weiß von den Sorgen der Bewohner, doch er betont, dass man einen enorm hohen Aufwand betreibe, den Menschen in der Stadthalle „den Aufenthalt so angenehm wie möglich“ zu bereiten. Mitarbeiter der Verwaltung kümmern sich um ein Frühstück, ein warmes Mittagessen, ein Abendessen. Mit sogenannten Séparées wolle man den Menschen in der Stadthalle nun eine Art umschlossenen Raum geben, mit einer Schiebetür, mit eigenem Licht. Die Ausstattung habe man zu Beginn des Ukrainekrieges mit einem örtlichen Schreiner entwickelt, nun wolle man sie in den nächsten Tagen wieder aufbauen.

Jeder Situation gerecht zu werden, ist schlicht nicht möglich. Haustiere etwa können nicht mit in die Stadthalle ziehen. Weber hatte deshalb Glück, mit Hund Jacky bei seiner Bekannten unterzukommen. Sonst hätte er das Tier in einem Fahrzeug übernachten lassen oder es vielleicht kurzzeitig im Tierheim unterbringen müssen. Weber, Öksöz und Zeinab wünschen sich, in ihre Wohnung zurückkehren zu können. Sicherheit. Eine Perspektive. Was Babenhausen ihnen vorerst bieten kann, ist ein sicheres Dach über dem Kopf.

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