Sozialen Medien

Johanna Götting: ‚Was man nicht kennt, hat man auch nicht zu ver- oder beurteilen‘

Eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg wird in dem neuen Kurzfilm «Sprengstoff» zum Aufhänger von neuer Gewalt. Hauptdarstellerin Götting spricht über die Dreharbeiten des Kinderfilmes.

Frau Götting, was haben Sie gedacht, als Sie das Drehbuch zu «Sprengstoff» zum ersten Mal gelesen haben?
Als ich das Drehbuch zu «Sprengstoff» das erste Mal gelesen habe, fand ich vor allem die Einbettung gesellschaftlicher Themen und Konflikte in einen Kinderfilm sehr spannend. Außerdem fand ich es sehr erfrischend zu sehen, wie gleichwertig die beiden Hauptrollen aufgebaut waren. Es ging nicht darum, dass dem „armen Faried“ von der „lieben Anne“ geholfen wurde, sondern beide Rollen hatten ihre eigene Dynamik, Stärke und Präsenz, wodurch ich den Weg, den sie zusammen gehen, sehr interessant fand.

Ihre Figur Anne ist vielschichtig – impulsiv, mutig, aber auch verletzlich. Wie haben Sie sich dieser Rolle angenähert?
Anne ist in meinen Augen immer eine eigentlich sehr neugierige und offene Person gewesen, die gerne im Geschehen dabei ist, aber vieles auch erstmal beobachten und kennenlernen muss. Es ging also für mich weniger darum, Anne groß in gesellschaftliche oder politischen Ecken zu sortieren, sondern eher eine gewisse Spontanität, oder wie Sie schon sagten, Impulsivität zu behalten und teilweise auch ein bisschen kindliche Naivität mit zu bedenken. In dem Alter fängt es häufig ja gerade erst an, dass man sich mit „Normvorstellungen“ oder politischen Themen intensiver beschäftigt und da einen Mittelweg zu finden, zwischen allgemeiner Neugierde und Interesse, aber auch dem Einfluss des sozialen Umfelds, das war mir sehr wichtig.

Im Film prallen unterschiedliche Lebenswelten und Generationen aufeinander. Was hat Sie an Annes Entwicklung besonders gereizt?
Es hat mir nochmal verdeutlicht, wie sehr wir alle von unterschiedlichen Strömungen und Meinungen umgeben sind und wie einfach es ist, sich irgendwo mitziehen zu lassen. Auf der anderen Seite zeigt Annes Entwicklung auch, dass man sich jederzeit noch von diesen Ansichten distanzieren kann und sollte, wenn es sich für einen nicht richtig anfühlt oder sogar gefährlich wird. Außerdem zeigt der Film mit Anne, aber auch mit Faried, Achim oder den anderen Anwohnern, dass Unkenntnis und Vorurteile immer auf Distanz basieren und das beste, was man gegenteilig unternehmen kann ist, aktiv und offen auf einander zuzugehen. Was man nicht kennt, hat man auch nicht zu ver- oder beurteilen.

«Sprengstoff» verbindet ein sehr konkretes Bedrohungsszenario – eine alte Fliegerbombe – mit aktuellen gesellschaftlichen Spannungen. Wie haben Sie diese Symbolik wahrgenommen?
Ausgrenzung, Unkenntnis, Vorurteile, Gewalt, Hass – all das ist sozialer Sprengstoff und darf nicht verdrängt werden, sonst kommt es zur Explosion. Genau wie bei Fliegerbomben. Man darf beides nicht ignorieren, sonst wird es noch mehr und größeren Schaden anrichten.

Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit Ihrem Kollegen Zahel Anwary erlebt, der Faried spielt?

Zahel ist ein wahnsinnig toller, herzlicher und lieber Mensch und ein unglaublich präziser und ausdrucksstarker Schauspieler. Ich war und bin echt beeindruckt, was er beim Dreh und im Film geleistet hat und das, obwohl es sein aller erster Filmdreh war! Aber trotz Aufregung und so vielen neuen Eindrücken so stark und echt zu spielen, finde ich echt bemerkenswert und es hat sehr viel Spaß gemacht, an seiner Seite zu spielen.

Mit Nicole Heesters standen Sie mit einer Schauspiel-Ikone vor der Kamera. Was hat Sie an der Arbeit mit ihr beeindruckt?
Nicole ist wirklich eine Ikone des deutschen Schauspiels und mit ihr gemeinsam vor der Kamera zu stehen, war ein großes Geschenk. Sie hat eine unglaubliche Präsenz und bringt so viel Energie und künstlerisches Wissen mit, was mich den ganzen Dreh über sehr beeindruckt hat. Was ich von ihr besonders gelernt habe ist, dass man immer Fragen stellen darf und sollte, um die Bedeutung einer Szene oder eines Wortes noch tiefer zu verstehen. So kann die Unterscheidung zwischen „Mutter“ oder „Mama“ beispielsweise die emotionale Farbe und Tiefe einer Szene nachhaltig verändern.

Der Film zeigt, wie schnell Misstrauen und Vorurteile eskalieren können. Haben Sie solche Dynamiken auch schon persönlich erlebt – sei es im Alltag oder in der Schule?
Ja, und leider würde ich hier fast noch ein „klar“ hinzufügen. Ja klar. Leider. Ich muss dazu sagen, dass ich aufgrund meiner Herkunft, Sozialisierung und meines Aussehens noch nie persönlich auf diese Weise angefeindet wurde, aber beschäftigen tut es mich schon lange und ich würde auch behaupten, dass es gar nicht immer eskalieren muss, um als problematisch angesehen zu werden. Trotzdem sind die Situationen, an die ich mich konkret erinnere, nur vereinzelte Vorfälle, die ich sekundär miterlebt habe, und kein Alltag, wie es leider für viele Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe oder Kultur ist.
Eine Situation, an die ich mich noch oft erinnere, ist, wie ich beim Vorlesewettbewerb 2016 mit meinem schwarzen Onkel zu der Veranstaltung gelaufen bin und uns ein Kind auf einem Bobbycar entgegenkam. Sie hat meinen Onkel kurz angeschaut und dann ein „Würg-Geräusch“ gemacht und ist weggefahren. Das ist eins der ersten Male, wo ich Rassismus nachhaltig mitbekommen habe. Und selbst dieser Satz ist privilegiert.

Was möchten Sie, dass insbesondere junge Zuschauerinnen und Zuschauer aus dem Film mitnehmen?
Das mag jetzt vielleicht ein bisschen plump klingen, aber ich fände es toll, wenn Kinder diesen Film einfach als einen schönen Film sehen würden, den sie sich unter Umständen auch nochmal anschauen würden. Ich glaube, was wir Erwachsenen oft erwarten ist, dass Kinder danach einen Aufsatz darüber schreiben können, warum es wichtig ist, sich gegenseitig mit Respekt zu begegnen, warum Rassismus schlimm ist und wozu Ausgrenzung und Vorurteile führen können. Und verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde es elementar wichtig, dass Kinder auch die Möglichkeit bekommen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Allerdings passiert vieles dieser Verarbeitung auch ganz einfach durch Spiel und Fantasie. Und wenn es im Fernsehen normal ist, dass Menschen unterschiedlicher Hintergründe, Kulturen und unterschiedlichen Aussehens miteinander spielen oder Sport machen, ist es vielleicht auch nicht mehr so abwegig, in der nächsten Sportstunde das neue Mädchen oder den neuen Jungen mal anzusprechen.

Anne widerspricht nicht nur Gleichaltrigen, sondern auch ihrem eigenen Vater. Wie wichtig ist es Ihnen, jungen Menschen Mut zu machen, ihre Meinung zu sagen?
Dieses Thema finde ich unglaublich wichtig. Was nicht heißt, dass nicht auch ein gewisser Respekt gegenüber den Eltern herrschen sollte, aber ich bin absolut davon überzeugt, dass Kinder mehr verstehen, als wir Erwachsene oft denken. Sie verstehen Dinge vielleicht auf anderen Ebenen und nicht direkt bezogen auf gesellschafts-historische Dynamiken, aber die eigentliche Essenz der jeweiligen Thematik ist meist für Kinder sehr simpel. Und ich denke, dass man als ältere Generation gegenüber der jüngeren nie vergessen sollte, dass man die Welt so gestaltet, wie sie die nächste Generation irgendwann entgegen nehmen wird. Dieser Grundsatz von Respekt und Empathie würde sich meiner Meinung nach nur positiv auf das allgemeine Miteinander auswirken.

Welche Szene war für Sie persönlich am herausforderndsten – emotional oder auch körperlich?
Wir haben alle Lauf-Szenen an einem Tag gedreht, bei 30°C und in praller Sonne immer und immer wieder zu sprinten, war schon etwas anstrengend, aber es hat auch sehr viel Spaß gemacht und das ganze Team hat uns sehr unterstützt und natürlich haben alle auch gut darauf geachtet, dass wir viele Schatten- und Trinkpausen hatten.

Emotional intensiv war der Drehtag in der Turnhalle, wo Clara (Nicole Heesters) von ihrer Flucht erzählt. Da war jeder Take wirklich sehr emotional, was aber auch Nicoles ausdrucksstarkem Schauspiel zuzurechnen ist.

«Sprengstoff» ist ein Film, der gesellschaftlich Stellung bezieht. Haben Sie das Gefühl, dass das im deutschen Film häufiger passiert?
Definitiv häufiger, aber meiner Meinung nach immer noch nicht häufig genug. Und ich verstehe total, dass das schwer ist, mehr Zeit, Aufwand und letztendlich auch Geld bedarf, inklusive oder gesellschaftlich relevante Filme und Serien zu produzieren. Aber auf der anderen Seite ist der Effekt, den Film- und Fernsehen auf unsere alltägliche Wahrnehmung hat, enorm.

Was nehmen Sie selbst aus diesem Projekt mit – als Schauspielerin, aber auch als Mensch?
Ich mag diese Frage sehr gerne, weil man immer nochmal neu reflektiert und irgendwie kommen mir auch immer ein bisschen andere Situationen ins Gedächtnis. Also danke. 🙂 Und als richtige Antwort – Ich habe das Gefühl, als wäre ich sowohl als Schauspielerin als auch als Mensch durch diese Erfahrung nochmal zwei Zentimeter gewachsen (metaphorisch) und bin sehr dankbar für die Menschen, die ich an diesem Set kennengelernt habe und von denen ich so vieles lernen und mitnehmen durfte.

Wir hatten ein sehr hohes Pensum und es ist von jeder einzelnen Person sehr viel Kraft und Kreativität in diesen Film geflossen und es hat mir noch mal verdeutlicht, wie unglaublich schön Teamarbeit und Zusammenhalt ist und was daraus Tolles entstehen kann.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

«Sprengstoff» ist seit 2. Mai in der ZDFmediathek abrufbar. Der Film läuft am Sonntag, den 4. Mai, um 20.00 Uhr im KIKA.

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