Katja Petrowskaja reist während des Ukrainekriegs mit ihrer Freundin O. nach Pompeji

Ich fuhr nach Neapel, um meine Kyjiwer Freundin O. zu treffen, die sich dort im Süden, wo der Frühling sich schon zu entfalten begann, eine Woche Ferien leistete. Um dem Winter und dem Krieg zu entfliehen, reiste sie an einen Ort, der vor fast 2000 Jahren zerstört wurde und seit Dutzenden von Jahren museal zur Schau gestellt wird, durch die Zerstörung eingefroren wie in einer Zeitkapsel, festgehalten im Moment wie auf einer Fotografie. O. hatte ihr ganzes Leben den Traum gehegt, nach Pompeji zu fahren. Sie folgte ihrem Traum, und ich folgte ihr. Gerade in dieser Zeit, wo niemand weiß, wie es ausgehen wird, geben die Ukrainer ihre Träume nicht auf, auch wenn sie nur kurz aufscheinen dürfen. Als Tochter einer bekannten ukrainischen Archäologin verbrachte O. seit ihrer Kindheit jeden Sommer bei Ausgrabungen auf der Krim und in der Südukraine. Ich dachte daran, wie es sich wohl für sie anfühlt, aus dem Land mit der wachsenden Zahl von Ruinenstädten, wo der Zufallstod von Zivilisten zum Alltag gehört, mit all den Ereignissen und Bildern aus der Heimat, die man nicht „archivieren“ kann, in die tote Stadt zu fahren?
Die ersten Stunden in Neapel verbrachte ich wie in einer magischen Schleife: Ich ging die Via Tribunale entlang und stand plötzlich im Hof des ältesten Krankenhauses der Stadt, der mit Glyzinien überwachsen war, genau wie der Hof von O. in Kyjiw. Ein paar Schritte weiter stieß ich auf eine Kirchentür, auf der in ukrainischer Sprache ein Gottesdienst angekündigt wurde, und tatsächlich: In der majestätischen halbverfallenen Kirche wurde mitten am Tag in Neapel eine griechisch-katholische Liturgie gefeiert. Es wurde auf Ukrainisch gepredigt und gesungen, der Pfarrer sprach zu den Frauen, denn es waren nur Frauen da, seine Worte des Trostes und des Durchhaltens, sie erreichten auch mich, die Touristin. Dann, beim Einkaufen, fand ich mich in einem kleinen Laden wieder, sein Inhaber war Ukrainer, und ich verließ den Laden mit einer Tüte ukrainischer Lebensmittel in der Hand, wie eine Parodie des pompejanischen Freskos der Primavera, der Frühlingsgöttin mit dem Füllhorn. Ich war in Italien aber die Ukraine ließ mich nicht los, genau wie in meinen Texten.
Ich war schon einmal in Pompeji, vor vielen Jahren, an einem besonderen Tag. Ich bewunderte die Fresken in ihrem Rot und dem seltenen Blau, studierte die mythologischen Szenen und zuckte zusammen beim Anblick der unheimlich kriechenden Körper, die im Moment des Todes von der Lava umschlossen wurden – als mein Begleiter einen Notruf erhielt: Fukushima ist explodiert, ein Tsunami überschwemmt die Küste. Es fühlte sich an wie ein Kurzschluss: eine tödliche Nachricht in einer toten Stadt. In Pompeji wimmelte es von japanischen Touristen, die noch von nichts wussten. Wir zögerten, ob wir ihnen sagen sollten, was in ihrer Heimat passierte. Als wir die Piazza Garibaldi in Neapel erreichten, sahen wir auf einer riesigen Leinwand eine Welle, groß wie ein Hochhaus, die Menschen verschlang und alles zerstörte, was in ihrem Weg lag.
Mit O. machte ich Ausflüge: zu den Phlegräischen Feldern, der Name bedeutet „verbrannte Erde“, wo der Sage nach die Schlacht der Titanen mit den neuen Göttern war, die Zeus gewann, wo ein Tempel der Hellseherin Sibylla steht, wo man den Eingang zur Unterwelt erkunden kann. Im Regionalzug lasen wir uns gegenseitig Vergils Eklogen vor, als wollten wir uns mit seinen Zukunftsprophezeiungen auf die neue Weltlage besinnen.
Nach Pompeji kamen wir erst am letzten Tag. An diesem Ort entblößt die plötzliche Zerstörung das Intimste und bewahrt es gleichzeitig für die Ewigkeit – ein Paradoxon, das ich bis zum Schluss nicht begreifen konnte. Als wir das Gelände verließen, blickte ich zurück auf den majestätischen Vesuv, auf die Pinien, die diese Landschaft prägen, und machte ein Abschiedsfoto. Ich habe fotografiert, was ich gesehen habe: Pompeji durch die Sonnenbrille. Der Vesuv thront darin in einem warmen Sepiaton und rechts, wie gemalt, das Amphitheater, das an die öffentlichen Tötungen erinnert, die man dort zur Belustigung des Publikums veranstaltete.
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