#Madame will ein Kind, Monsieur einen Stall
Inhaltsverzeichnis
„Madame will ein Kind, Monsieur einen Stall“
Die Gebrauchsanweisung für seinen Roman „Nur die Tiere“ liefert Colin Niel gleich mit den ersten Sätzen. Menschen wollten immer einen Beginn, heißt es da, sie „bilden sich ein, wenn eine Geschichte irgendwo anfängt, muss sie auch ein Ende haben“. Das, was sich im Nirgendwo des französischen Zentralmassivs zugetragen habe, sei unter den Einwohnern zu einer Art Klatsch-Hit geworden, Stille-Post-Effekt inklusive. Man spinne etwas dazu, schleife hier eine Kante glatt, fräse dort ein Detail heraus. „Würd ich auch so machen“, sagt eine Figur, „da hat man wenigstens was zu erzählen, jeder will irgendwas zu erzählen haben, sonst existiert man ja nicht.“ Will sagen: Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen.
Damit wäre der Krimi zugunsten der Menschenseelenkunde überwunden. Ja, es geht in diesem Buch um eine vermisste Frau. Nein, die schrittweise Lösung des Falls bildet nicht das alleinige Kraftzentrum des Plots. Niel, 1976 in Clamart geboren, macht sich lieber daran, laufend über den Zusammenhang von Erzählinstinkt und Conditio humana nachzudenken. Und falls es stimmt, dass wir nur dann sind, wenn wir uns mitteilen, müssen sich seine Protagonisten keine Sorgen um ihre Existenz machen. Fünf Personen berichten nacheinander, was sie mit der verschwundenen und, das wird man ausplaudern dürfen, ermordeten Évelyne Ducat zu tun hatten. Jeder in einem eigenen Soziolekt. Jeder mit anderen narrativen Strategien. Jeder als verkappter Erzähltheoretiker.
Der Nonkonformist unter den Whodunit-Adepten
Wer einem Roman ein solches Programm unterjubelt, muss aufpassen, nicht im Erklärstrudel über zivilisationsbildende Mythen und sinnstiftende Schöpfungsakte (am Anfang war das Wort!) abzusaufen. Denn Krimistorys und pseudoakademische Vorlesungen liegen – Fans des Genres kennen das Problem – häufig nah beieinander. Nicht so bei Niel. Er knüpft ein reißfestes Handlungsgewebe, weil er, von seinem Personal ausgehend, zwar dann und wann Reflexionen einstreut, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können, sich aber verbietet, die Figuren in Gefäße kulturhistorisch bedeutender Ideen zu verwandeln.
Colin Niel: „Nur die Tiere“. Roman.
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Bild: Lenos Verlag
Wichtiger als Selbstbeweihräucherung sind diesem Nonkonformisten unter den Whodunit-Adepten psychologisch verwahrloste Charaktere und eine von jedem Schnittmuster befreite Plotstruktur. Das hat auch Dominik Moll überzeugt, der seine Verfilmung des Stoffs 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig vorstellte.
Im zwischenmenschlichen Morast
Das Geschehen wird oft von Zufällen motiviert und kennt keinen Hoffnungsschimmer. Alice, eine Sozialarbeiterin, die sich um die Bauern der Gegend kümmert, hebt hervor: „Was wir sehen, sind zerrüttete Familien, Beziehungen, die in die Brüche gehen, weil Madame ein Kind will, Monsieur dagegen einen neuen Stall; Männer, die unter der schieren Last der Arbeit in Depressionen versinken.“ Der Kommunikationsfluss mit ihrem Mann Michel – auch er verdingt sich als Bauer – ist zu einem Rinnsal verkommen. Sein ebenso wortkarger Kollege Joseph sagt: „Tja, ich weiß nur, wie man mit Schafen redet.“ Alice verliebt sich in ihn, betrügt ihren Mann und fragt sich, ob sie sich deswegen schämen oder freuen soll.
Einmal bemerkt sie: „Wir starrten uns sekundenlang an, ich suchte in seinem Blick, der entschlossen war wie nie, nach einer Erklärung.“ Damit ist sie nicht allein, denn „Nur die Tiere“ dreht sich um eine doppelte Suche: nach der Wahrheit über Évelyne Ducat und nach dem Wesen der Anderen. Da es letzte Antworten nicht gibt, verfolgt der Leser, wie sich die Charaktere tastend und deutend durch zwischenmenschlichen Morast schleppen und vergeblich versuchen, ihre Partner und die Wirklichkeit am Schlafittchen zu packen. Aber was sich da abzeichnet, „irgendwo zwischen Erfundenem und Übertreibungen, war eine Art Porträt der Vermissten und vielleicht gar nicht mal so weit weg von der Realität“. So sagt uns die Literatur also, dass am Ende womöglich alles Literatur ist.
Niels große Kunst entfaltet sich im sparsamen Dialog, der, noch bevor er Fahrt aufnehmen kann, implodiert. Im Fall der Borderlinerin Maribé handelt es sich hingegen um explodierende Zwiegespräche. Sie sucht, wie ihre Mitstreiter, nach Nähe und will von den richtigen Worten zum richtigen Zeitpunkt wie von einem Kokon umfangen werden. Zugleich torpediert sie diese Bedürfnisse, indem sie eine Liaison mit der verheirateten Évelyne Ducat eingeht und dabei von einem Subjekt zu einem Objekt schrumpft: Die eine diktiert die Termine, zu denen man sich trifft, die andere fügt sich in eine selbstzerstörerische Abhängigkeit und nimmt „die paar Krümel Liebe und flüchtigen Freuden, die sie mir gewährte wie einem ausgesetzten Tier die Futterration“.
So führen die Figuren einen Reigen aus „Wut, Traurigkeit, Hass und Liebe, Verständnislosigkeit und Schuld“ auf. Im vorletzten Kapitel – Schauplatz ist die Elfenbeinküste – reduziert der Autor jedoch das psychologische Raffinement, um die Hintergründe des Geschehens zu erhellen. Das Buch ist deswegen nicht vermurkst, aber die Dynamik menschlichen, allzumenschlichen Gebarens zugunsten einer erzählökonomisch eher faden Ursache-Wirkungs-Kette aufgelöst. Muss nun eine Geschichte, die irgendwo anfängt, auch einen Schluss haben? Gewiss, die Geschichte um Évelyne Ducat allerdings bäumt sich auf den letzten Seiten noch einmal auf und nimmt eine neue Richtung. Ende offen.
Colin Niel: „Nur die Tiere“. Roman. Aus dem Französischen von Anne Thomas. Lenos Verlag, Basel 2021. 286 S., br., 22,– €.
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