Mit Herz und Hirn in die Tennishistorie
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Das Match war noch gar nicht beendet, da wurden schon die ersten Überlegungen angestellt. Auf den Tribünen, in den Fernsehübertragungen und in den sozialen Medien trieb die Menschen, die stundenlang dieses wunderbare Endspiel der French Open verfolgt hatten, dieselbe Frage um: Wo bekommt das, was sich da gerade abspielte, seinen Platz in der Geschichte dieses Sports?
Es gibt viele Finalspiele über fünf Sätze voller Dramatik und voller Wendungen, die der Tennissport hervorgebracht hat. An manche wird sich auch Jahre später noch erinnert. Wie großartig dieses Comeback von Carlos Alcaraz gegen Jannik Sinner war, schien schon allein dadurch deutlich zu werden, welche Matches als Referenzgrößen herangezogen wurden.
„Das spannendste und aufregendste Spiel“
Mancher führte das Wimbledon-Endspiel von Björn Borg gegen John McEnroe von 1980 an, der Nächste das von Roger Federer gegen Rafael Nadal in Wimbledon 2008. Und wiederum andere verglichen es mit dem längsten Finale der Grand-Slam-Geschichte zwischen Novak Djokovic und Rafael Nadal bei den Australian Open 2012, bei dem 24 Minuten mehr gespielt worden war. Sicher sagen ließ sich nach diesem 4:6, 6:7 (4:7), 6:4, 7:6 (7:3), 7:6 (10:2) für Alcaraz nur: Es war eines der größten Endspiele, die es je gegeben hat.
„Ich überlasse es anderen, wo sie es in der Tennis-Geschichte einordnen“, sagte Alcaraz, als er nach 5:29 Stunden Spielzeit mit der Coupe des Mousquetaires vor sich ergründen sollte, was er selbst nicht glauben konnte. 0:2 hatte er schon zurückgelegen, drei Matchbälle abwehren müssen im vierten Satz, ehe er im längsten Finale der Roland-Garros-Geschichte das unfassbar hohe Niveau von Sinner noch mal übertraf und sich zum Sieger krönte.
„Das war das spannendste und aufregendste Spiel, das ich bisher gespielt habe, ohne Zweifel“, sagte Alcaraz: „Das Match heute hatte alles.“ Es war ein Endspiel der Kategorie „Muss man gesehen haben“. Weil Worte diesem Zauber, der so viele kleine und große Geschichten schrieb, die man sich Jahre lang erzählen wird, eigentlich nicht gerecht werden können.
So spielt niemand, der zu viel Party macht
Da war zum Beispiel die Geschichte von Alcaraz, der am Finaltag 22 Jahre, einen Monat und drei Tage alt war – also auf den Tag genau im selben Alter wie Nadal seinen fünften Grand-Slam-Titel gewann. „Das ist Schicksal“, sagte Alcaraz, der seinen Landsmann als Idol und Inspiration bezeichnet. Der Spanier hatte sich vor diesem Turnier Vorwürfe gefallen lassen müssen.
In einer Netflix-Dokumentation, die kurz zuvor erschienen war, wirkt es so, als würde er nicht immer höchste Professionalitätsansprüche erfüllen können. „Er kommt hier nicht wie ein Tennisspieler rüber, der trainiert, sondern wie jemand, der gerne feiert, der das braucht, und der nicht professionell ist. Und das ist nicht wahr“, kritisierte Nadal. Nach diesem Finale muss man ihm recht geben: So spielt niemand, der zu viel Party auf Ibiza macht.
„Kann deshalb nicht weiter weinen“
Da war aber auch die Geschichte von Sinner, der in diesem Endspiel anfangs mit der Wucht und Präzision eines Roboters spielte, aber auch im sechsten Versuch nicht sein erstes Match gewinnen konnte, das länger als vier Stunden dauerte. „Ich hätte mir nicht mal im Traum vorstellen können, es so weit zu schaffen und irgendwann das längste Finale von Roland Garros zu spielen“, sagte Sinner, der erst zwei Wochen vor seinem ersten Aufschlag in Paris aus seiner dreimonatigen Dopingsperre zurückgekehrt war und dann das gesamte Turnier auf einem beeindruckenden Niveau spielte: „Es tut weh, aber auf der anderen Seite kann man deshalb nicht weiter weinen.“

Auch er wird mit etwas Abstand Positives aus dieser Partie mitnehmen können – vor allem das Gefühl, Alcaraz auch auf Sand auf Augenhöhe begegnen zu können. Am Ende hatte Sinner sogar einen Punkt mehr erzielt als sein Gegner: 193:192 wies die Statistik aus. Doch immer, wenn es richtig brenzlig wurde legte Alcaraz in den entscheidenden Momenten zu.
Und da war zu guter Letzt die ganz große Geschichte, der Blick in die Zukunft, den dieses Spiel zuließ. Es drängte sich jedenfalls unweigerlich auch die Frage auf, wer diese beiden schlagen soll. Im Moment kann es darauf nur eine Antwort geben: erst mal niemand.
„Ihr Niveau erhöht sich jedes Mal“
Alcaraz, 22 Jahre alt, und Sinner, 23, haben die sechs vergangenen Grand-Slam-Turniere gewonnen. Sie spielen auf einem anderen Level als der Rest und werden diesen Sport, wenn nichts dazwischenkommt, womöglich über die nächsten Jahre dominieren. Dafür spricht nicht nur ihre Spielkunst. Erfahrungen wie die vom Finalsonntag werden sie noch stärker werden lassen.
„Ihr Niveau erhöht sich jedes Mal, wenn sie auf den Platz gehen. Sie wissen, dass sie unglaubliches Tennis spielen müssen, um den anderen zu schlagen“, sagte Juan Carlos Ferrero, der Trainer von Alcaraz: „Das ist etwas, das jedem Spieler helfen wird, das Niveau noch weiter zu steigern.“ Auch Alcaraz glaubt daran, dass dieses Match beide voranbringt: „Er wird seine Hausaufgaben machen und auch ich werde daraus lernen, wie ich gegen ihn besser spielen und ihm taktisch mehr Schaden zufügen kann.“
Mit Herz und Hirn in die Tennishistorie
Ihre Rivalität ist auch deshalb so interessant, weil es sich bei dem Italiener und dem Spanier um verschiedene Charaktere handelt: Sinner spielt maschinenartig, mit flacheren Grundschlägen, zeigt kaum Emotionen. Alcaraz ist temperamentvoller, variabler, geht ständig aus sich heraus. Sinner spielt mit Hirn, Alcaraz mit Herz. Beide Stile haben in ihren besten Momenten einen unwiderstehlichen Reiz.
Das alles ist Stoff für die nächste große Erzählung in diesem Sport. Schon jetzt werden Vergleiche angestellt mit den größten Spielern der Geschichte. Doch die führen zu nichts. Jede Epoche steht für sich. Selbst in der Ära der Großen drei um Djokovic, Nadal und Federer, die noch nicht lange zurückliegt, wurde anders gespielt als heute, wo es vor allem um Tempo geht.
Von der alten Generation ist nur noch Djokovic übrig. Im Halbfinale verlor er in drei Sätzen gegen Sinner. Der Spanier Alcaraz und der Südtiroler Sinner schreiben nun ihre eigene Geschichte. Und die schönste all der vielen Erkenntnisse, die dieses phänomenale Finale umgaben, war diese: Sie hat gerade erst begonnen.
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