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#„Mr. Atta, wenn Sie jetzt nicht losgehen, verpassen Sie Ihren Flug“

„Mr. Atta, wenn Sie jetzt nicht losgehen, verpassen Sie Ihren Flug“

Es gibt Sätze in diesem Hörbuch, die sind unglaublich. Etwa dieser: „Mr. Atta, wenn Sie jetzt nicht losgehen, verpassen Sie Ihren Flug.“ Gesprochen hat ihn (zu seinem großen nachträglichen Bedauern) ein Mitarbeiter des Portland International Airport, gegen Viertel vor sechs am Morgen. Mohammed Atta hat ihn nicht verpasst, den Frühflug nach Boston, wo er dann umstieg in die Maschine, die er um 8.46 Uhr in den Nordturm des World Trade Centers steuerte.

Kein anderes Ereignis der jüngeren Geschichte hat sich den Zeitgenossen so ins Bewusstsein gebrannt wie die Anschläge vom 11. September 2001. Fast jeder weiß noch, wo er gerade war und was er gemacht hat, als die Twin Towers stürzten. Allerdings sind seitdem fast zwanzig Jahre vergangen, und den heute Geborenen wird der 11. September so weit entrückt sein wie den Babyboomern der sechziger Jahre der Zweite Weltkrieg. Zeitzeugen- und Erlebnisberichte werden deshalb in Zukunft noch mehr Bedeutung bekommen. Unter ihnen dürfte die von Garrett M. Graff aufwendig erarbeitete „Oral History“ ein Markstein bleiben. Hier ist man beim Hören siebzehn Stunden lang mitten im Geschehen – und das Beeindruckende ist, dass es viele Mitten gibt. Jeder Mensch, dem wir hier zuhören bei seinem ganz persönlichen 11.-September-Erlebnis, ist eine. Sicher, man hat schon viele politische und philosophische Exegesen der Attentate gelesen, aber wie es sich wirklich angefühlt hat für die Menschen, die in den Türmen waren oder im Flammeninferno des Pentagon, das hat man so dicht und unmittelbar erzählt noch nicht erfahren.

Wie eine Wollsocke im Mund

Während die Fernsehbilder die Zuschauer in den beklommenen Bann zogen, weil sie das Monumentale, Gewaltige der Katastrophe zeigten, sind es bei dieser Hördokumentation eher die Details, die sich einprägen. Etwa wenn jemand erzählt, dass auf den Fluchtwegen „lauter Damenschuhe“ lagen – die Frauen hatten ihr zum Flüchten ungeeignetes Schuhwerk weggeworfen. Einem anderen geht das entsetzliche „platschende Geräusch“, mit dem die „Jumper“ vor dem Gebäude aufschlugen, nicht mehr aus dem Kopf. Man hört vom orkanartigen Wind beim Zusammensturz der Türme und vom Zischen, mit dem die graue Schuttwolke heranquoll, die sich wie eine in den Mund gestopfte „Wollsocke“ anfühlte. Immer wieder ist von der anschließenden „Totenstille“ die Rede. Dichter Rauch und Trümmerstaub erstickten jeden Schall.

Diese Hördokumentation vermittelt das Grauen, aber sie zeigt auch, wie die Menschen über sich hinauswuchsen und sich von einer Minute auf die andere wie „Helden“ verhielten – ein sehr amerikanisches, aber zutreffendes Wort. Viele, die die Treppenhäuser hinabflüchteten, haben mit Bewunderung und Erschütterung auf die Feuerwehrleute reagiert, die in schwerer Ausrüstung unbeirrt dorthin stiegen, wo sie gerade herkamen: „Sie gingen nach oben in den Tod, während wir nach unten liefen, um zu leben.“ Solche Sätze bleiben haften.

Der Präsident stand alleine da

Hoch oben über dem panischen Land, in der Präsidentenmaschine von George W. Bush, herrscht Ratlosigkeit. Wohin soll die Reise gehen? Der von Bush gewünschte Rückflug nach Washington ist nach dem Anschlag auf das Pentagon ausgeschlossen; man fürchtet, als nächstes könnte es das Weiße Haus treffen. Bush und seine engsten Mitarbeiter sind in der Air Force One wegen des immer wieder unterbrochenen Fernsehempfangs schlechter informiert als die Millionen am Boden. Schließlich sieht man auch in der Kabine des Präsidenten die Bilder der stürzenden Türme. Der Fotograf Eric Draper erinnert sich: „Im Raum herrschte absolute Stille. Einer nach dem anderen schlichen sich alle davon, und der Präsident stand alleine da und sah zu, wie sich die Wolke ausdehnte.“ Was für eine Szene!

Garrett M. Graff: „Und auf einmal diese Stille“. Die Oral History des 11. September. Hörbuch Hamburg, Hamburg 2020. 3 MP3-CDs, 1041 Min., 13,95 .


Garrett M. Graff: „Und auf einmal diese Stille“. Die Oral History des 11. September. Hörbuch Hamburg, Hamburg 2020. 3 MP3-CDs, 1041 Min., 13,95 .
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Bild: Verlag Hörbuch Hamburg

Das Hörbuch ist das ideale Medium für eine solche „Oral History“. Die Texte werden von einundzwanzig vorzüglichen Hörspielsprechern gelesen. Der wohlprononcierte Vortrag bemüht sich nicht um Authentizität, sondern steht bisweilen in einem – eher angenehmen – Kontrast zu den berichteten Erlebnissen, die in der schockhaften Realität wohl nur ein Stammeln, Schreien oder Schluchzen zuließen, etwa wenn es um die nachgespielten Telefongespräche mit den Passagieren in den entführten Flugzeugen oder um die letzten Mitteilungen jener Menschen geht, die oberhalb der Einschlagstellen in den brennenden Türmen eingeschlossen waren. Etwa zweitausend waren es, nur achtzehn von ihnen haben überlebt.

Fünfhundert Zeitzeugenberichte hat Garrett M. Graff ausgewählt und verdichtet. Er hat sie thematisch gegliedert in vierundsechzig jeweils mit knappen Einleitungen versehene Kapitel. Wann immer möglich, werden die Stimmen miteinander in Bezug gebracht. Beeindruckend sind die Perspektivensprünge: Ein Augenzeuge schildert einen Menschen, der dann als nächstes zu hören ist. Die Beobachtung eines Geschehens geht auf diese Weise immer wieder in den Ich-Erfahrungsbericht über. So wird aus der Stimmensammlung eine kunstvolle Collage.

Während die vielen journalistischen Reaktionen auf die Katastrophe sogleich Verständnis und Orientierung bieten wollten, ist es genau das, woran es den Menschen, die selbst mitten in den Geschehnissen standen, gemangelt hat. Eben noch herrschte Alltag – im nächsten Moment wird das Unverständliche Ereignis. Das unbegriffene, verzweifelte Gefangensein in der Situation vermittelt dieses Hörbuch ungeheuer eindringlich.

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