#Neandertaler-Linie war 50.000 Jahre isoliert
Inhaltsverzeichnis
In der Endzeit der Neandertaler gab es in Europa offenbar mindestens zwei genetisch voneinander getrennte Linien. Das legen DNA- und Isotopen-Analysen eines Neandertalers nahe, der 2015 in der Grotte Mandrin in Frankreich entdeckt wurde. Das Individuum, dem die Forschenden den Spitznamen „Thorin“ gaben, lebte demnach vor etwa 42.000 bis 50.000 Jahren. Genetisch ähnelte dieser Frühmensch aber nicht Neandertalern dieser Zeit, sondern Individuen, die vor mehr als 100.000 Jahren gelebt haben. Demnach gehört Thorin zu einer bislang unbekannten Linie von Neandertalern, die wahrscheinlich 50.000 Jahre von anderen Populationen isoliert lebte.
Bis vor etwa 40.000 Jahren waren die Neandertaler in Eurasien weit verbreitet. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich von Süd- und Westeuropa über den Nahen Osten bis hin nach Zentralasien und Sibirien. Während sich die genetische Ausstattung der Frühmenschenart im Laufe der Zeit veränderte, ging man bisher davon aus, dass die späten Neandertaler, die in den letzten Jahrtausenden vor dem Aussterben ihrer Art lebten, zu einer einzigen genetischen Linie gehörten. Diese Annahme wird nun durch eine neue Studie in Frage gestellt.
Rätselhafter Fund
Ein Team um Ludovic Slimak von der Universität Paul Sabatier in Toulouse entdeckte 2015 in der Grotte Mandrin nahe der französischen Stadt Montélimar die Überreste eines Neandertalers, dem die Forschenden den Spitznahmen „Thorin“ gaben. Anhand der Sedimentschicht, in der sich die Fossilien befanden, schätzten Slimak und sein Team das Alter ihres Fundes auf etwa 42.000 bis 50.000 Jahre. Demnach war Thorin ein sogenannter später Neandertaler, der kurz vor dem Aussterben der Frühmenschenart lebte. Um seine Verwandtschaft mit anderen bisher gefundenen Neandertalern zu bestimmen, analysierte das Team die alte DNA aus Thorins Zähnen und Kiefer und verglich seine Genomsequenz mit bereits sequenzierten Neandertaler-Genomen.
Doch das Ergebnis passte nicht zu der Altersschätzung. Denn Thorins Genom ähnelte nicht dem der Neandertaler aus seiner Zeit, sondern viel eher dem von Neandertalern, die vor mehr als 100.000 Jahren lebten. „Wir haben sieben Jahre lang daran gearbeitet, herauszufinden, wer sich geirrt hat – Archäologen oder Genomiker“, sagt Slimak. Anhand von Isotopenanalysen, die unter anderem Aufschluss darüber gaben, unter welchen klimatischen Bedingungen Thorin gelebt hat, bestätigte das Team die ursprüngliche Altersschätzung. Demnach hat Thorin tatsächlich erst vor 42.000 bis 50.000 Jahren gelebt – auch wenn sein Genom deutlich urtümlicher wirkte.
Trotz räumlicher Nähe isoliert
„Dieses Genom ist ein Überbleibsel einiger der frühesten Neandertaler-Populationen in Europa“, sagt Co-Autor Martin Sikora von der Universität Kopenhagen. „Der Stammbaum, der zu Thorin führte, hat sich demnach vor etwa 105.000 Jahren von dem Stammbaum getrennt, der zu den anderen späten Neandertalern führte.“ Somit gab es in den letzten Jahrtausenden der Neandertaler mindestens zwei genetisch voneinander getrennte Populationen. „Die Thorin-Population verbrachte 50.000 Jahre, ohne Gene mit anderen Neandertaler-Populationen auszutauschen“, sagt der Slimak.
Das ist besonders erstaunlich, da der Fundort nicht weit von anderen bereits bekannten Neandertalersiedlungen entfernt ist. „Wir haben es also mit 50 Jahrtausenden zu tun, in denen zwei Neandertaler-Populationen, die etwa zehn Tagesmärsche voneinander entfernt lebten, nebeneinander existierten und sich gegenseitig völlig ignorierten“, so Slimak. „Das wäre für einen Homo sapiens unvorstellbar und zeigt, dass die Neandertaler unsere Welt biologisch ganz anders wahrgenommen haben müssen als wir.“
Aussterben durch mangelnden Austausch?
Aus Sicht der Forschenden könnte dieses Ergebnis auch eine Erklärung dafür liefern, warum die Neandertaler vor rund 40.000 Jahren ausstarben, während der Homo sapiens bis heute überlebt hat. „Klassischerweise werden als Grund für das Aussterben der Neandertaler oft ökologische Faktoren angeführt, darunter klimatische Veränderungen und Vulkanausbrüche“, erklären die Forschenden. Die neuen Erkenntnisse hingegen lassen eher auf interne Ursachen schließen. „Es ist immer gut, wenn eine Population in Kontakt mit anderen Populationen steht“, sagt Sikoras Kollegin Tharsika Vimala. „Isolation schränkt die genetische Vielfalt ein, was bedeutet, dass die Population weniger in der Lage ist, sich an Klimaveränderungen und Krankheitserreger anzupassen. In sozialer Hinsicht sorgt fehlender Wissensaustausch mit anderen dafür, dass sich die Population kaum weiterentwickelt.“
Gerade im Kontakt mit Homo sapiens, der bereits damals weitreichende soziale Netze pflegte, könnten die sozial und genetisch isolierten Neandertaler im Nachteil gewesen sein. „Das Aussterben der Neandertaler könnte somit ein komplexer Prozess gewesen sein, bei dem die Geschichte und die Ethologie dieser Populationen eine Schlüsselrolle gespielt haben könnten“, schreiben die Forschenden.
Quelle: Ludovic Slimak (Université Paul Sabatier, Toulouse, Frankreich) et al., Cell Genomics, doi: 10.1016/j.xgen.2024.100593
Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.
Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Wissenschaft kategorie besuchen.