#Reindustrialisierung: Im Tal der Fahrräder: Wie eine Industrie in Portugal wieder zum Leben erwachte
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„Reindustrialisierung: Im Tal der Fahrräder: Wie eine Industrie in Portugal wieder zum Leben erwachte“
Die Pandemie machte Portugal zu Europas größtem Fahrradhersteller. Das Land hat gezeigt, wie in der EU totgeglaubte Industrien wieder zurückgeholt werden können.
In Gewerbegebieten rund um die Kleinstadt Águeda reiht sich Fabrik an Fabrik, an den Eingangstoren hängen Schilder aus Emaille oder Stahl, auf denen steht: „Wir suchen Mitarbeiter.“ Eine der Fabriken gehört dem Unternehmen Tabor, 1965 als Zusammenschluss fünf kleiner Hersteller gegründet und einer der traditionellen Produzenten von ledernen Fahrradsätteln in der Region.
Daniel de Matos, der 26-jährige Firmenchef, führt durch eine Lagerhalle, in der entsetzlicher Lärm herrscht. Vor einigen Jahren wurden die Rohmaterialien und Vorprodukte für die handgemachten Sättel – also Rohre, Sprungfedern, Leder – in Asien eingekauft. Heute stellt seine Firma dies und auch noch andere Teile fürs Fahrrad selbst her, in einer Anlage direkt neben der Sattelmanufaktur. Dort wird gesägt und geflext, riesige Stanzanlagen drücken Blechplatten zurecht, Einzelteile, Ersatzstücke, Winkel und Plaketten, von denen man als Laie nicht weiß, was aus ihnen wird. Matos erklärt es einem – ein Kleinststück für die Verbindung zwischen Lenker und Rahmen, ein Teil eines Pedals, der Klangraum einer Klingel. Dutzende Arbeiter laufen durch die Halle, verpacken Einzelteile in Kisten. Auf einigen kleben Zettel mit den Adressen von Unternehmen eine Straße weiter.

Ein Denkmal symbolisiert die lange Geschichte der portugiesischen 14.000-Einwohner-Stadt Águeda mit der Produktion von Fahrrädern.
Foto: Nuno Veiga
Die Region galt lange als verloren
In Águeda ist ein regelrechtes Biotop von Fahrradherstellern entstanden. „Wir bauen alles selbst, stellen alles selbst her“, sagt de Matos. Importiert wird nur das, was man nicht produzieren kann. Darin liegt für ihn die Zukunft. Die Region rund um die Kleinstadt Águeda galt lange Zeit als verloren. In den dreißiger Jahren war sie zum Zentrum der Fahrradindustrie geworden, doch als Unternehmen in den achtziger Jahren nach Asien abwanderten, um Kosten zu sparen, und wenig später billige Räder aus China den Markt fluteten, brach fast alles zusammen. Viele Menschen verloren ihren Job und zogen weg, nach der Finanzkrise 2008 war Portugal eines der am schwersten betroffenen Länder Europas. Seit einigen Jahren ist das anders. Águeda hat Portugal zum größten Exporteur von Fahrrädern in der Europäischen Union gemacht.
In einem Industriegebiet im Norden Lissabons stehen tausende grün-silberne Fahrräder in einem Hinterhof. Seit 2017 gibt es Gira, Lissabons Sharing-Bike-System, mit mittlerweile mehr als 1000 Rädern an 110 Stationen. Die E-Bikes spiegeln die Entwicklung des portugiesischen Fahrradgeschäfts wider: Fast alles an ihnen kommt aus Portugal – die Batterie, der Stahl, der Rahmen, der Sattel, die Lichter, die Räder und die Transportkörbe. Nur der Motor kommt bei einigen Rädern noch aus China und die Bremsen von Shimano aus Japan.
„Unendlich lange Lieferzeiten aus Asien“
„Seit der Pandemie gibt es ein großes Problem weltweit im Fahrradgeschäft“, sagt Nuno Pina, der den Betrieb von Gira verantwortet. „Alles, was aus Asien kommt, hat unendlich lange Lieferzeiten.“ Das sei ein Problem, weil asiatische Hersteller oft keine Reparaturen erlaubten und man kaputte Teile einsenden müsse. Bis sie zurückkommen, vergehe dann mehr als ein Jahr. „In unserem Warenlager liegen noch einige hundert Ersatzteile von Shimano“, sagt Pina, „das ist gerade unser Gold und Silber.“
Die Pandemie hat die weltweiten Lieferketten durcheinandergebracht, die Transporte mit Containerschiffen haben sich enorm verlangsamt. Die Nachfrage nach Fahrrädern aber ist stark gestiegen. Nicht nur weil Millionen Menschen in Großstädten sich aus Angst vor dem Virus vom öffentlichen Nahverkehr abgewandt und das Fahrrad entdeckt haben, auch generell hat sich die Sicht auf urbane Mobilität verändert. Lieferunternehmen wie FedEx oder UBS kaufen Lastenräder, weil diese in der Stadt praktisch und umweltfreundlich sind. E-Bikes erschließen einen komplett neuen Markt für Menschen, die zuvor aus Bequemlichkeit, wegen zu langer Distanzen oder körperlichen Einschränkungen kein Fahrrad nutzten. Eine explodierende Nachfrage traf auf ein sinkendes Angebot.
Die Hersteller in und um Águeda konnten darauf reagieren, weil deren Industrie sich schon einige Jahre vor Corona zu erholen begann. Dabei hatten die Anti-Dumping-Zölle geholfen, die die Europäische Union seit 1993 auf die Einfuhr von Fahrrädern aus China erhebt und die es den Produzenten ermöglichten, mit den Firmen aus Asien zu konkurrieren. Außerdem hatten sich bereits 2015 kleine Produzenten auf Initiative des portugiesischen Zweirad-Verbands Abimota zu einem Netzwerk zusammengeschlossen.
Gemeinsam konnten sie mehr investieren und weitere Produkte entwickeln. Bald siedelten sich Hersteller von Sätteln, Taschen, Rücklichtern, Reflektoren, Helmen, Kindersitzen, Schlössern und sogar von Batterien und komplexer Elektronik an – eine Industrie, die zuvor fast ausschließlich in Asien saß. Diese Infrastruktur half dem Tal der Fahrräder in der Pandemie, als etliche Teile für die Montage kaum noch lieferbar waren.
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Video: dpa
Zölle gegen China halfen mit
Was den Unternehmerinnen und Unternehmern auch half: dass die EU seit 2019 auch auf E-Bikes aus China Anti-Dumping-Zölle erhebt. Weil die dortigen Hersteller den Zugang zum europäischen Markt nicht verlieren wollen, nimmt die Geschichte gerade eine erstaunliche Wendung: Laut José Mota von Lightmobie hat kürzlich ein chinesischer Motorenhersteller mit der Firma In Cycles hier ein Werk für Fahrradmotoren eröffnet. In den vergangenen drei Jahren haben die rund 70 Hersteller der Region etwa 10.000 Arbeitsplätze geschaffen. Das Land, in dem kaum zwei Prozent der Einwohner Europas leben, produziert nun 25 Prozent der Fahrräder in der EU. Und im einst abgeschiedenen Águeda hat heute ein olympisches Trainingszentrum seinen Sitz, in dem viele europäische Radteams trainieren. Die Firma Lightmobie produziert heute E-Bikes und Bike-Sharing-Lösungen für Portugal und Spanien. RTE, nach eigenen Angaben Betreiber des größten Montagewerks für Fahrräder in Europa, stellt exklusiv für das französische Sportartikelunternehmen Decathlon Räder her.
Außerdem sitzt in Águeda der größte Hersteller für Pedale, die erste europäische Fabrik für robotergeschweißte Alurahmen, und im Aufbau befindet sich eine Fabrik für Carbonräder. Miranda, eine Firma, die Komponenten für Gangschaltungen herstellt, hatte 2021 den höchsten Umsatz seit der Gründung vor rund 80 Jahren.
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Einige Hersteller aus dem Tal der Fahrräder können sich über den Boom in ihrer Region aber nicht uneingeschränkt freuen. Für José Mota „ging alles viel zu schnell“. Die Hallen seien schon wieder zu klein, viele notwendige Teile knapp. Manche Hersteller hätten volle Auftragsbücher bis 2025. „Es wächst über den Rand hinaus“, sagt er und ist überzeugt, dass die kleinen Hersteller allein die Industrie nicht weiterentwickeln können, es brauche eine Konsolidierung. Einen Champion aus Portugal. „Denn sehr bald schon“, so sieht er das, „müssen wir einen Großteil des europäischen Marktes stemmen.“
Bis dahin müsse noch einiges an Produktion zurückgeholt werden. Da sei zum Beispiel die spezielle Bremsscheibe, die ein Vorderrad mit Nabenmotor braucht und die nur Shimano aus Japan produziert. Vor der Pandemie habe er nie darüber nachgedacht, dass das ein Problem sein könnte. Aber dann waren die Bremsen auf einmal nicht mehr lieferbar. Sein Team entwarf das Rad daraufhin neu, sodass sie nun Bremsscheiben eines niederländischen Herstellers und Motorenteile von Bosch einbauen können. José Mota hofft, dass auch diese Bestandteile bald aus Portugal kommen. Daniel de Matos von Tabor sieht es so: „In vielen europäischen Ländern dachten die Menschen, dass die Chinesen alles für sie bauen und sie selbst vom Tourismus leben können.“ Die portugiesische Fahrradindustrie profitiere nun davon, dass sie ihre Produktion nie ganz eingestellt und ihr Know-how nicht verloren habe. Er findet: „Wir müssen lernen, unsere Gebrauchsgegenstände wieder selbst herzustellen – aus ökologischen und wirtschaftlichen Gründen.“
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