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#Rezension von Søren Ulrik Thomsens Essay „Store Kongensgade 23“

Erzählung als Essay: Søren Ulrik Thomsen schreibt in „Store Kongensgade 23“ feinsinnig über das Lebensende seiner Mutter. Allerdings enthält der Text eine gefährliche Empfehlung für den Umgang mit psychischen Krankheiten.

Søren Ulrik Thomsens Essay „Store Kongensgade 23“ beginnt mit dem Tod seiner Mutter. Er ist nicht der Erste, der beim Tod eines Elternteils ins Erinnern und Schreiben kommt. Annie Ernaux, Karl Ove Knausgård und nicht zuletzt Peter Handke verfassten nach dem Tod des Vaters oder der Mutter autobiographische Texte. In Handkes Erzählung „Wunsch­loses Unglück“ heißt es: „Auf einmal hatte ich in meiner ohnmächtigen Wut das Bedürfnis, etwas über meine Mutter zu schreiben.“ Dieser Satz dient Thomsen als Motto seiner Mutterbiographie.

Dass „Store Kongensgade 23“ als Essay ausgewiesen wird, hat gute Gründe. Man hätte auch von Autofiktion sprechen können. Thomsen spickt seine Erinnerungen dafür mit ausreichend vielen theoretischen Überlegungen und Reflexionen auf die eigene schriftstellerische Arbeit. Aber da die Rede vom Autofiktionalen so häufig verwendet wird, dass sie ihre Aussagekraft verloren hat, verspricht die Bezeichnung als Essay ein besserer Wegweiser zu sein. „Store Kongensgade 23“ ist in der Tat ein Versuch, in dem der Autor verschiedene Zugänge zum autobiographischen Schreiben ausprobiert.

Am weitesten führt der Lebensweg der Mutter, der unter anderem anhand der von ihr geschriebenen Gedichte nachvollzogen wird. Als die Familie vom Land in die dänische Hauptstadt zieht und der Autor in die Pubertät kommt, wird sie schwer depressiv. Sieben Jahre lang muss die Mutter immer wieder in die Psychia­trie eingewiesen werden und kann kaum am Familienleben teilnehmen. Thomsen schreibt, er habe sich in dieser Zeit verloren gefühlt und sei zugleich voll jugend­licher Zukunftsträume gewesen. An die bedrückenden Ereignisse könne er sich kaum erinnern, an die schönen dagegen gut. Über allem liege aber ein Dunst der Schwermut, der von der Krankheit der Mutter herrühre.

Die Qualen der Elektrokonvulsionstherapie

Sie bekommt verschiedene Psychopharmaka und mehr als dreißig Elektrokonvulsionstherapien verschrieben. Zuletzt hat vor drei Jahren Linda Boström Knausgård von ihren qualvollen Erfahrungen mit dieser Behandlungsmethode berichtet. Wie sie empört Thomsen sich über den Einsatz dieser Therapie, aus der die Patienten vollkommen zerstört hervorgingen. So habe er bei einem Besuch im Krankenhaus die Mutter „fürchterlich abgemagert, mit einem verwaschenen, blassroten Krankenhausnachthemd bekleidet, überdreht lachend und mit unnatürlich leuchtenden Augen“ vorgefunden.

Nach etlichen Jahren habe sich ein Arzt schließlich wirklich für das Leid seiner Mutter interessiert. Das therapeutische Gespräche lässt sie – wie ein Wunder – von heute auf morgen gesunden. Thomsen zieht aus diesem Umstand weitreichende Schlüsse. Etwas zu gewiss und leichthändig wirft er psychiatrischen Behandlungsmethoden vor, das Psychische aufs Somatische zu reduzieren.

Als Alternative führt er die Psychoanalyse ins Feld. Er selbst sei durch sie von Angstattacken erlöst worden. Als ob der Autor den analytischen Dialog mit seiner Mutter sucht, skizziert er anamnetisch deren Familiengeschichte. Sie ist berührend und erzählt von den Schicksalsschlägen mehrerer Generationen. Dabei stößt Thomsen auf den narzisstischen, wenig fürsorglichen Vater seiner Mutter, den er als Ursache für die mütterlichen Depressionen heranzieht.

Vom Erinnern, Älterwerden und Schreiben

Das alles ist auf den ersten Blick sehr nachvollziehbar. Doch trotz der berechtigten Kritik an rabiaten Behandlungsmethoden ist Thomsens Empfehlung für den Umgang mit psychischen Krankheiten gefährlich. Sie insinuiert, dass die Evidenz des Gesehenen Wahrheit verspricht. Kindisch pocht der Autor darauf, dass er nun mal gesehen habe, was er gesehen hat. Seine Psychiatrie-Kritik lässt er vielsagend mit einem Zitat von Éluard enden: „Ich sage, was ich sehe / Was ich weiß / was wahr ist.“

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