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Schwarz und weiß

New Bern ist ein kleiner Ort mit dreißigtausend Einwohnern im Osten von North Carolina an der Atlantikküste, dort, wo die Flüsse Neuse und Trent zusammenkommen und ins Meer münden, und man darf guten Gewissens vermuten, dass sich der Schweizer Fotograf Michael von Graffenried nie für das Städtchen interessiert hätte, wäre es nicht einer seiner Vorvorvorfahren gewesen, Christoph von Graffenried, der sich 1710 hierher in die Wildnis durchgeschlagen hatte, ein paar Holzhäuser errichtete und der Siedlung nach seiner eigenen Herkunft den Namen verpasste, den sie noch heute trägt.

Freddy Langer

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das „Reiseblatt“.

Aber es war mehr als Ahnenforschung und -verehrung, was ihn im Laufe von fünfzehn Jahren ein Dutzend Mal nach New Bern führte. Jeweils für einige Wochen. Er versuchte, sagt er, den Ort zu verstehen, eine Gesellschaft, die sich gut zur Hälfte aus Weißen und zu mehr als einem Drittel aus Schwarzen zusammensetzt. So machte er Bekanntschaften, schloss Freundschaften, übernachtete stets privat und wurde doch von Jahr zu Jahr immer misstrauischer beobachtet, wenn er wieder mit seiner Panoramakamera auftauchte. Denn niemand konnte recht verstehen, was genau sein Ziel war. Und jetzt, da man ein Ergebnis sieht, seinen großartigen Bildband „Our Town“, sagt er trocken, dass ihn in New Bern vermutlich noch niemand in Händen gehalten habe.

Und wenn doch? Was werden sie denken, die Bewohner des Orts, denen Michael von Graffenried bisweilen buchstäblich auf die Pelle rückte und die dennoch nicht die Spur davon erkennen lassen, dass sie aufgenommen werden, nicht einmal der Herr, der sich beim Table Dance solide unterhalten lässt, geradeso als habe der Fotograf unter einem Tarnmäntelchen gesteckt. Darüber lässt sich naturgemäß nur spekulieren. Aber es wird jeder sich erkennen, in seinem Auftritt, in seinen Gesten – ob er in Uniform stolz das Sternenbanner trägt oder in Handschellen abgeführt wird, mit Schnellfeuerwaffen im Garten Schießübungen macht oder in einer Ausstellung mit Aktgemälden nach den Häppchen greift.

Die Lebenden und die Toten: Beerdigung in New Bern


Die Lebenden und die Toten: Beerdigung in New Bern
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Bild: Michael von Graffenried / Steidl Verlag

Was man indes nicht erkennt, ist der Ort. Es gibt keine Bilder der Straßen, kaum Fotos von Gebäuden oder der laut Angaben der Stadt sechsunddreißig Sehenswürdigkeiten, darunter die Apotheke, in der Caleb Bradham im Jahr 1898 Pepsi-Cola erfunden hat. Stattdessen zeigt Michael von Graffenried in weitem Ausschnitt erfasst und stets sehr komplex komponiert lauter eindringliche Szenen des Alltags, die sich um Menschen herum abspielen, von denen nicht wenige sozial benachteiligt sind und nicht allein durch Naturkatastrophen in den Ausnahmezustand katapultiert wurden, von denen andererseits etliche vom Schicksal mehr als ausreichend begünstigt scheinen. Es ist viel los auf diesen Bildern, und es braucht viel Zeit, sie zu betrachten.

Zivil und Uniform: Mini-Parade in New Bern


Zivil und Uniform: Mini-Parade in New Bern
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Bild: Michael von Graffenried / Steidl Verlag

Was Michael von Graffenried vorlegt, ist ein Geschichtenbuch und ein Geschichtsbuch zugleich, in dem er anhand von New Bern mit präzisem analytischen Blick prototypisch von Lebensumständen in Amerika berichtet, von den Ritualen der Menschen und ihren Hoffnungen, aber auch von der Spaltung des Lands, die allenfalls im Sport maßvoll übertüncht ist. Ein wenig ist es auch ein Lehrbuch.

„Our Town“ von Michael von Graffenried. Steidl Verlag, Göttingen 2021. 240 Seiten, 120 Abbildungen. Gebunden, 45 Euro.

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