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#Wo Zentralasien auf Europa traf

Im 6. Jahrhundert drangen aus Zentralasien stammende Awaren bis nach Mitteleuropa vor und siedelten sich dort an. Wie sich Kultur und Menschen damals mischten, enthüllen nun DNA-Analysen von gut 700 Toten aus zwei benachbarten Gräberfeldern südlich von Wien. Dabei zeigten sich zwar große kulturelle und soziale Übereinstimmungen zwischen den beiden Nachbarorten, aber eine fast vollständige, über Generationen anhaltende genetische Trennung: In einem lebten fast nur Menschen awarischer Abstammung, im anderen Europäer.

Die Awaren waren ein zentralasiatisches Viehzüchter-Volk, das bis Mitte des 6. Jahrhunderts die Steppengebiete nördlich des Schwarzen Meeres bevölkerte. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich bis in die heutige Mongolei. Ab 553 drangen jedoch türkische Stammesverbände in das Awarengebiet ein und vertrieben diese Richtung Westen. Als Folge wanderten die Awaren bis nach Ostmitteleuropa ein. Ihr anfangs kriegerisches Vordringen gipfelte in einer fehlgeschlagenen Belagerung von Konstantinopel im Jahr 626, später bildete sich jedoch eine friedliche Koexistenz der auch entlang des heute österreichischen Donautals und im Voralpenland siedelnden Awaren und der alteingesessenen Europäer.

Gräberfelder zweier Nachbarorte im Fokus

Von der Präsenz und dem großen kulturellen Einfluss der Awaren auch nach der Zerstörung ihres Reichs durch die Franken um das Jahr 800 zeugen zahlreiche Funde typisch awarischer Metallkunst, aber auch lokale Trachten, Ortsnamen und Zaumzeuge. Doch trotz dieses reichen archäologischen Erbes wirft die Awarenzeit viele Fragen auf, vor allem in Bezug auf die Art des Zusammenlebens der Einwanderer aus Asien mit ihren europäischen Nachbarn. Um mehr Klarheit zu schaffen, hat ein internationales Forschungsteam um Ke Wang von der Fudan Universität in China und dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig zwei große Gräberfelder aus der Awarenzeit genetisch und archäologisch untersucht.

Die nur rund 20 Kilometer voneinander entfernten Gräberfelder von Mödling und Leobersdorf liegen südlich von Wien und umfassen die Gräber von insgesamt 722 Toten aus dem 7. und 8. Jahrhundert. Archäologische Funde in diesen Gräbern zeigen, dass dort vorwiegend Menschen aus dem Kulturkreis der Awaren bestattet worden waren. Den Untersuchungen der Toten zufolge gab es in dieser Gegend aber keine Konflikte zwischen den Volksgruppen, Awaren und Alteingesessenen lebten offenbar in friedlicher Koexistenz. „Wir finden an den Skeletten keine Verletzungen, die auf Kampfhandlungen zurückzuführen sind, und es gibt kaum Anzeichen für Mangelerscheinungen“, erklärt Co-Autorin Doris Pany-Kucera vom Naturhistorischen Museum Wien.

Kulturell gleich, genetisch aber getrennt

Umso überraschender waren die Resultate der DNA-Analysen: “Wir haben festgestellt, dass diese beiden benachbarten Orte trotz ihres gemeinsamen kulturellen Hintergrunds und gleicher sozialer Praktiken hochgradig unterschiedliche genetischen Abstammungen aufwiesen”, berichten Wang und ihr Team. Während die in Leobersdorf bestatteten Toten zu 72 Prozent ostasiatischer Abstammung waren, gab es in Mödling fast ausschließlich Gräber von Menschen mit europäischer Herkunft. „Die genetischen Unterschiede zwischen diesen Gruppen waren sehr deutlich“, sagt Wang.

Trotz räumlicher Nähe und kultureller Übereinstimmungen lebten in diesen nahen Nachbarorten demnach genetisch voneinander getrennte Bevölkerungen: Sie heirateten nicht untereinander und zogen auch nicht von einem in das andere Dorf um. Nähere Analysen ergeben, dass diese genetische Isolation damals mehr als sechs Generationen lang anhielt. „Statussymbole wie Gürtelbeschläge mit Greifen sowie ihre Kultur und Bräuche waren jedoch identisch. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich beide Gruppen als Awaren betrachteten“, sagt Co-Autor Bendeguz Tobias von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Enge Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Toten innerhalb der beiden Gräberfelder erlaubten es dem Forschungsteam, auch die Sozialstruktur der beiden Gemeinschaften zu rekonstruieren.

Awaren-Frauen kamen von weither

Diese Vergleichsanalysen ergaben: Die frühmittelalterlichen Bewohner von Mödling und Leobersdorf ähnelten sich nicht nur in ihrer materiellen Kultur, beide waren auch patrilinear und patrilokal organisiert. Demnach blieben die Männer vor Ort, heirateten aber vorwiegend Frauen, die aus weiter entfernten Gebieten zuzogen. “Leobersdorf hatte dabei mehr biologische Verbindungen mit dem Kerngebiet der Awaren als mit dem benachbarten Mödling”, berichten die Forschenden. Die Generationen überdauernde genetische Barriere wurde offenbar dadurch aufrechterhalten, dass die von Awaren abstammenden Männer Leobersdorfs ihre Frauen systematisch aus Orten im Awarengebiet auswählten.

Nach Ansicht von Wang und ihren Kollegen demonstrieren diese Ergebnisse, dass kulturelle Assimilation, ethnische Integration und genetische Vermischung nicht zwangsläufig mit dem gleichen Tempo stattfinden müssen. “Diese Studie liefert das erstaunliche Beispiel für eine genetische Barriere zwischen kulturell eng verwandten Awaren-Gemeinschaften. Dies unterstreicht, wie viel wir noch über frühere menschliche Gesellschaften lernen können, wenn wir Analysen alter DNA mit historischen, anthropologischen und archäologischen Ansätzen kombinieren”, kommentiert Michelle Trenkmann, leitende Redakteurin der “Nature”.

Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie; Fachartikel: Nature, doi: 10.1038/s41586-024-08418-5

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