#Dem Ursprung der Osterinsel-Schrift auf der Spur
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Sie ist bis heute nicht entziffert und geheimnisumwittert: Wann und wie haben die Bewohner der Osterinsel ihre mysteriöse Rongorongo-Schrift entwickelt? Die Datierung einer der erhaltenen Tafel bestärkt nun die These, wonach das Volk der Rapanui diese Schrift tatsächlich eigenständig, ohne europäisches Vorbild entwickelt hat. Das Holz, in das die Glyphen geritzt wurden, stammt demnach aus dem fünfzehnten Jahrhundert – die ersten Europäer erreichten die Insel aber erst rund 200 Jahre später. Dennoch kann der Befund die frühe Entwicklung des Schriftsystems noch immer nicht eindeutig beweisen, erklären die Autoren.
Die majestätischen Moai haben die Osterinsel berühmt gemacht: Die Steinkolosse zeugen von einer erstaunlichen und noch immer rätselhaften Kultur, die sich einst auf der entlegenen Pazifikinsel entwickelt hat. Man geht davon aus, dass das Volk der Rapanui aus polynesischen Seefahrern hervorgegangen ist. Wann sie auf der extrem isoliert gelegenen Insel angekommen sind, ist unklar – möglicherweise erst im 12. Jahrhundert n. Chr. Klar ist: Die Siedler brachten dort schließlich eine erstaunlich leistungsfähige Gesellschaft hervor, die sich in den monumentalen Kultplätzen und Statuen der Insel widerspiegelt. Inwieweit die Kultur bereits von einem Niedergang gezeichnet war, als im Jahr 1722 die ersten Europäer auf der Insel ankamen, ist strittig. Doch der völlige Kollaps der Kontinuität setzte erst in der Folge ein: Sklavenhändler beuteten die Bevölkerung aus, eingeschleppte Krankheiten rafften sie dahin und Missionare kamen auf die Insel. Um 1877 waren offenbar nur noch knapp über 100 Rapanui übriggeblieben. Die meisten Informationen über die traditionelle Kultur waren dadurch verloren gegangen.
Wie alt ist die mysteriöse Schrift?
Dies betraf auch einen besonders geheimnisvollen Aspekt der Kultur: Die Bewohner der Insel hatten offenbar eine Schrift entwickelt, über die erst im Jahr 1864 berichtet wurde. Es handelt sich um komplexe Zeichenfolgen, die in Holzstücke geritzt wurden. Viele dieser Glyphen-Tafeln wurden offenbar im Zuge der Missionierung absichtlich vernichtet – nur 27 Exemplare befinden sich heute in verschiedenen Sammlungen der Welt. Die sogenannten Rongorongo-Zeichen besitzen eindeutig die Merkmale eines Schriftsystems. Den Glyphen-Folgen können aber kaum Bedeutungen zugeordnet werden – die Schrift ist bis heute nicht entziffert. Genauso mysteriös ist auch ihr Ursprung, denn aus anderen Teilen des polynesischen Kulturkreises ist kein Schriftsystem bekannt.
Die Rapanui könnten ihre Schrift demnach eigenständig entwickelt haben, was in der Menschheitsgeschichte eine Besonderheit darstellt. Doch dieser Annahme widerspricht bisher ein Einwand: Es erscheint möglich, dass die Inselbewohner die Schrift erst entwickelt haben, nachdem sie das Konzept bei den europäischen Seefahrern kennengelernt haben. So könnte sie auf die Idee gekommen sein, eigene Symbole für ein Schriftsystem zu nutzen, so der Erklärungsansatz. Wenn diese These zutrifft, dürfte es also keine Schriftzeugnisse geben, die älter als der früheste Kontakt der Inselbewohner mit Europäern sind. Somit kommt der Datierung der Rongorongo-Tafeln eine besondere Bedeutung zu.
Bisher wurden aber nur Proben von zwei Tafeln einer Radiokarbondatierung unterzogen. Die Ergebnisse verwiesen dabei auf die 1800er Jahre für das Fälldatum der Bäume, die das Holz für die Inschriften geliefert haben. Diese Ergebnisse passten somit zu der Adaptions-Hypothese, schlossen aber nicht aus, dass andere Exemplare älter sein könnten. Deshalb hat nun das Forschungsteam um Silvia Ferrara von der Universität von Bologna vier weitere Rongorongo-Tafeln einer Radiokarbondatierung unterzogen, die in einer Sammlung in Rom aufbewahrt werden.
Frühe Datierung, aber…
Wie das Team berichtet, ergaben diese Analysen: Bei drei Exemplaren zeigte sich erneut ein Fälldatum der Bäume in der Zeit nach dem Erstkontakt von 1722. Doch bei der Rongorongo-Tafel mit der Bezeichnung „Échancrée“ war das nicht der Fall: Die Analysen ergaben eine besonders sichere Datierung auf das 15. Jahrhundert. Dieses Ergebnis liefert damit einen Hinweis auf die Verwendung der Schrift in einem Zeitraum vor der Ankunft externer Einflüsse und damit auf eine völlig eigenständige Entwicklung, sagen die Forschenden.
Man könnte nun meinen, der Fall sei geklärt. Doch wie die Autoren betonen, bleibt ein erheblicher Unsicherheitsfaktor: Die Datierung kreist zwar die Fällzeit des Holz-liefernden Baumes ein – sie muss aber nicht unbedingt mit der Zeit der Beschriftung zusammenfallen. Mit anderen Worten: Es könnte altes Holz verwendet worden sein. Dafür gibt es sogar mögliche Anhaltspunkte. Denn eine frühere Untersuchung der Holzstruktur der Échancrée-Tafel hatte nahegelegt, dass das Stück von einem Baum aus der Familie der Steineiben stammt. Diese Gewächse kommen aber auf der Osterinsel nicht vor. Es könnte sich demnach um Treibholz gehandelt haben, das möglicherweise von Südamerika aus das Inselufer erreicht hat. Auf der weitgehend entwaldeten Insel könnte solches Holz intensiv genutzt worden sein.
Wie alt das Material der Échancrée-Tafel schon war, als die Glyphen eingeritzt wurden, erscheint deshalb unklar. Dennoch halten die Wissenschaftler eine Beschriftung der Échancrée-Tafel vor 1722 für wahrscheinlich. Damit handelt es sich zumindest um einen weiteren Hinweis darauf, dass den geheimnisvollen Glyphen eine enorme Bedeutung zukommen könnte: „Rongorongo könnte eine der wenigen unabhängigen Erfindungen der Schrift in der Geschichte der Menschheit darstellen, was die kulturellen Entwicklungen der Bewohner der Osterinsel noch komplexer erscheinen lässt“, schreiben die Autoren abschließend.
Quelle: Ferrara et al., Scientific Reports, doi:1038/s41598-024-53063-7
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