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#Gefaltete Hände

Gefaltete Hände

Politik ist kein Ausbildungsberuf. Der legitime Dilettantismus des politischen Handelns, der Umstand, dass weder die Philosophie noch die wissenschaftliche Rationalität zur klugen Staatskunst prädestiniert, bestimmt die Brüche und die Offenheit im Wechsel der Eliten. Der Dilettantismus bildet, seit Durchsetzung des Prinzips der Volkssouveränität, die Kehrseite der für moderne Gesellschaften grundlegenden Rekrutierungsoffenheit im Raum politischen Handelns. Politik, um noch einmal Max Weber zu zitieren, das „langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“, zahlt den vergleichsweise freien Zugang aller entscheidungsfähigen Mitglieder des Volkssouveräns mit dem hohen Preis hoher Devianzanfälligkeit der Entscheidungen. Die politische Rationalität ist systematisch begrenzt, das Zustandekommen von Entscheidungen unterliegt einer durch Streit und Kompromisszwang diktierten Logik.

Das allem Entscheiden unterlegte Kalkül ist komplex. Einzig mit den historisch gegebenen Bordmitteln eines jeweiligen politischen Systems kann das Ziel allen politischen Handelns eingelöst werden: relative Verteilungsgerechtigkeit nach innen und Kooperationsbereitschaft nach außen. Politik, jenseits der Kriterien der Leidenschaftlichkeit, Sachorientiertheit und Verantwortungsbereitschaft, bedient sich allenfalls einer entlehnten Rationalität. Schauspieler, Tischler, Banker und Lehrerinnen, die Vielfalt von Aktivitäten und Interessenlagen erhält Eintritt in den Raum der Politik. Oder eben eine Physikerin.

Ein Protektionsversprechen an die Nation

Merkels Politik erscheint als die Inverse des väterlichen Missionarismus, ihr Erfolgsgeheimnis war ein Protektionsversprechen an die Nation, das sich nicht im Einlösen einer Programmatik bewährt, vielmehr durch authentische Bündelung verschiedener Strukturmerkmale der deutschen Geschichte. Dem trug ihre Amtsführung auf einzigartige Weise Rechnung: die Misstrauenskultur der DDR, von der sie in Kindheit und Jugend umgeben war, sublimiert sie zu einer unheroischen Distanz, dem Gegenteil von steriler Aufgeregtheit.

Dem Tarnen und Täuschen, Sozialmoral und Überlebenstechnik jeder Diktatur und besonders der ostdeutschen Variante, setzte sie die Zuversicht in das „Absprechen“ entgegen, wie sie es als Schulkind im Gespräch mit der Mutter gepflegt hatte, das Vertrauen in die pazifizierende Kraft der Argumentation. Kein Wunder, dass sie in der Wendezeit einer christlichen Partei beitrat, einer Partei, die sich vom Wertkosmos ihrer Entstehungszeit gelöst hatte, sodass es über die Jahre nicht als Widerspruch empfunden wurde, in ihr die ideale Repräsentantin der Sozialdemokratie zu sehen. Die Raute als Gestalt und Metapher ihres politischen Selbstverständnisses erschließt sich da als stimmige Figur. Sie symbolisiert das Offenhalten der Frage, wer wir sind, der Frage, wie sich unter der abstrakten Zugehörigkeit und Gleichheitsbeschwörung das Land, das gegen alle düsteren Prognosen vor wirtschaftlicher Stärke strotzt, in Zukunft orientieren wird.

Die Altkanzlerin bei ihrer Entlassung.


Die Altkanzlerin bei ihrer Entlassung.
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Bild: Stefan Boness/Ipon

Eine leere Gestaltungsgewissheit zeigt das Ensemble der auf sich selbst bezogenen Hände. Die Deutschen und ihre Hände, Merkels Haltung verkörpert die Geschichte eines Volkes. Keine Hand, die flach ausgestreckt in straffer Haltung zum Himmel gerichtet ist, auch keine Hand, die zur Faust geballt die Menschen auf zornigen Utopismus verpflichtet – unheilvolle Gesten, die durch das Europa des zwanzigsten Jahrhunderts eine Spur der Verwüstung gezogen haben –, unter der Last der Geschichte sind die Hände gebunden, zu einem Schwur auf Kooperativität, eine Introvertiertheit ohne Drohung nach außen, eine vorpolitische Geste des Hypothetischen und der Zurückhaltung, ihren Landsleuten ein Rätsel, das dazu ermuntert, Antworten auf die Frage nach den Gestaltungsprinzipien ihrer Sozialordnung zu finden.

Die Raute ist eine Geste der Vorsicht und Umsicht, die nach außen das Pathos nüchternen Abwägens kommuniziert in eine Welt, deren politische Eliten noch im geopolitischen Haudrauf des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts befangen sind und in Merkels unermüdlichem Angebot zu sprechen nichts als Gerede, allenfalls Beschwichtigung erkennen wollen. Kein Trost, dass die Welt kein Waldhof ist, der Kosmos christlicher Sittlichkeit, der für Kindheit und Jugend bestimmend wurde. Dem „We all live in a yellow submarine“, ihrem Lieblingssong der Beatles, den sie einst als siegreiche Mathe-Olympionikin aus Moskau mitbrachte, wird sie am Ende der Erfahrung globaler Vernetztheit der Staaten und Gesellschaften andere Lesarten entnehmen als der frühen Begeisterung, und das „Absprechen“ bleibt eine Utopie der Weltpolitik, die umzusetzen der ältesten Tochter aus protestantischem Haus in allen ihren Engagements selbstverständlich wurde – ein Vermächtnis ihrer Regierungszeit.

Die Hände, in den Tagen ihrer Kindheit zum Gebet gefaltet, suchen mit der Raute Halt in der schwebenden Balance. In einer Welt, hinter der Gott unsichtbar geworden ist, dem sie ganz unbefangen zu ihrem Abschied noch einmal dankt, wird die Raute das Sinnbild ihrer Mission.

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