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#Wo genau beginnt der Fundamentalismus?

Wo genau beginnt der Fundamentalismus?

Das neue Buch von Susanne Schröter, eine „Reise durch das islamische Multiversum“, versteht sich als Einspruch gegen die Verkürzung des Islams auf „Fundamentalisten und Radikale“. Die Autorin stellt einen anderen Islam vor oder besser: die verschiedenen Islame, die über Jahrhunderte auf unterschiedlichen kulturellen Nährböden gewachsen sind oder in jüngster Zeit erst neu entstehen.

Sie beginnt ihre Reise bei den Mevlevi- und Naqschbandi-Derwischen in der Türkei. In knappen und kompetenten Darlegungen wird deutlich, wie in diesen Varianten des türkischen Sufismus Kunstsinnigkeit, mystische Gottesliebe und (eben doch) strikteste Einhaltung von religiösen Normen sowie islamistischer politischer Aktivismus eine immer wieder neu sich konfigurierende Verbindung eingegangen sind. Bereits hier zeigt sich, dass eine klare Abgrenzung von „Fundamentalisten und Radikalen“ von anderen Muslimen nicht immer einfach ist.

Matriarchalische Strukturen in Malaysia

An strikte Interpretationen der Scharia gebundenes Sufitum war und ist im Osmanischen Reich und seinen Nachfolgestaaten auf dem Balkan nicht die einzige Form islamischer Mystik. Das wird im folgenden Kapitel beschrieben. Am Beispiel Albaniens sieht man darüber hinaus, dass nationalistische Ideologien durchaus in der Lage sind, in einer religiösen Gemengelage über die Konfessionen hinweg Einheit zu stiften. Der Krieg im nahen Bosnien in den neunziger Jahren war nicht die Konsequenz eines angeblich grundsätzlich unmöglichen Zusammenlebens von Christen und Muslimen, sondern eines gescheiterten Nation Building.

Susanne Schröter: „Allahs Karawane“. Eine Reise durch das islamische Multiversum.


Susanne Schröter: „Allahs Karawane“. Eine Reise durch das islamische Multiversum.
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Bild: C.H. Beck Verlag

Die Reise führt den Leser dann in den Senegal zu den unermüdlich arbeitenden und Handel im großen Stil treibenden (und zum Teil sich um die Scharia nicht besonders sorgenden) Adepten des Amadou Bamba. Diese bilden das wichtigste sozial-religiöse Netzwerk des Landes mit gewaltigem Einfluss auch auf das politische Geschehen. Weiter führt uns die Verfasserin zu den Frauen in Sudan und ihren Geisterkulten, zu den Ibaditen Omans, den Hijras (Transgender) in Pakistan, zu progressiven Muslimen, die im Westen Zuflucht gesucht und den modernistischen Islam in den Vereinigten Staaten und in Deutschland begründet haben. Wir gelangen in die Welt matriarchalischer Strukturen in Malaysia, die im Zuge einer „islamischen Globalisierung“ von Konservativen kritisiert werden, während gleichzeitig von Amerika angeregte muslimische Feministinnen das neue Konzept der Gleichberechtigung der Geschlechter islamisch zu begründen suchen.

Keine Idealisierungen, keine Verteufelungen

Weiter geht es nach Indonesien, wo ältere lokale oder hinduistische Vorstellungen (etwa von der Göttin des Südmeers, die durch einschlägige Riten besänftigt werden muss) über Jahrhunderte in enger Symbiose mit dem Islam lebten. Erst im zwanzigsten Jahrhundert wird dieser spezifisch indonesische Islam vor allem in den Städten zunehmend von einem globalen Islam verdrängt. Eine ähnliche Verbindung mit einheimischen Traditionen ist der Islam über lange Jahrhunderte in China eingegangen. Sowohl fundamentalistische Strömungen als auch die Sorge der Regierung vor unkon­trollierbaren fremden Religionen, die auch den Katholiken zu schaffen macht, führten in den letzten Jahren zunehmend zu Konflikten.

Wohin man mit der Verfasserin auch gelangt, man lernt auf leichte Weise ungeheuer viel. Nicht zuletzt, dass die islamische Welt bunt und nicht allein islamisch ist. Die Verfasserin idealisiert oder verteufelt nichts, sie ordnet alle Phänomene kenntnisreich und mit sicherem Urteil in ihre sozialen und kulturellen Kontexte ein und verdeutlicht so die ganze Komplexität des gelebten Islams und seine Reibungspunkte mit einer sich verändernden Welt. Das geschieht etwa am Beispiel der Kinder, die im Senegal von Sufimeistern erzogen werden, indem man sie zum Betteln schickt. Was über Jahrhunderte normal war, erscheint heute, da moderne Bildung über Lebenschancen entscheidet und die Vorstellungen von individuellen Kinderrechten andere sind denn ehedem, als Problem.

Alles nicht so einfach

Antworten auf Probleme von traditionellen Muslimen in der heutigen globalisierten Welt gibt nicht allein die säkularisierte individualistische Moderne. Diese Antworten, das wird auch von der Verfasserin immer wieder angesprochen, gibt auf seine Weise auch ein „fundamentalistischer“, von äußeren Beimischungen angeblich „gereinigter“ Islam; genau jener Islam also, der hier als Gegner der untersuchten Erscheinungsformen des Islams beschrieben wird.

Die vorgenommene Auswahl könnte den Leser, wenn er nicht genau liest, zu der Annahme verleiten, es gebe eine vom beschriebenen Multiversum abgrenzbare Einförmigkeit eines „fundamentalistischen“ Islams. Die Zwölferschiiten, die türkischen Naqschbandis, aber auch die omanischen Ibaditen und andere zeigen, dass die Abgrenzung des Fundamentalismus von anderen Formen von Islam pro­blematisch ist. Was allen „Orthodoxien“ gemeinsam ist, ist womöglich nur ihre Ablehnung von offenem Synkretismus und ein ängstliches Bemühen, die eigene Identität sauber von anderen zu trennen. Mit Thomas Bauer könnte man hier von Ambiguitätsintoleranz sprechen. Damit wäre der zeitgenössische „fundamentalistische“ Islam in der klassischen Moderne verortet. Dazu passt (und darauf verweist die Verfasserin immer wieder), dass diese „Fundamentalismen“ in der islamischen Welt besonders in städtischen, modernisierten Milieus gedeihen.

Gerade weil alles nicht so einfach ist, möchte man nach Ende der ebenso kurzweiligen wie lehrreichen Reise durch das islamische Multiversum hoffen, dass sich die Verfasserin in einem Folgeband auch der „Orthodoxen“ in ihrer ganzen Vielfalt und inneren Widersprüchlichkeit annimmt.

Susanne Schröter: „Allahs Karawane“. Eine Reise durch das islamische Multiversum. Verlag C.H. Beck, München 2021. 203 S., Abb., br., 16,95 €.

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