Als die Deutschen ihr Land verließen

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Um die Ecke geht es nach Amerika, sagen sie in Cuxhaven. Dort, wo sich die Elbe in die Hände der Nordsee begibt, verließen seit Mitte des 19. Jahrhunderts Millionen Menschen deutschen Boden mit dem Ziel: New York. Cuxhaven am Wattenmeer war zu den Hochzeiten der Verkehrsschifffahrt ein zentrales Tor in die Neue Welt. Am Amerikahafen stiegen die Menschen auf die Schiffe und begaben sich auf eine Odyssee, die anfangs Wochen oder gar Monate dauerte. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden die Anlagen nicht mehr für die Linienschifffahrt in die USA genutzt – und auch der Verkehr nach Großbritannien wurde eingestellt. Das Flugzeug hat den Wettlauf gegen die Zeit gewonnen.
Von dem Trubel um die Abfertigung der Auswanderer ist in dem Seeheilbad Cuxhaven heute kaum noch etwas geblieben. Die Stadt in Niedersachsen mit ihren knapp 50.000 Einwohnern verliert mehr Menschen, als hinzukommen. Sie ist strukturschwach und hoch verschuldet, heute fast vollständig auf Touristen angewiesen. Ein einst wichtiger Industriezweig, die Fischerei, blutet aus, beklagen die Verkäufer am alten Fischereihafen. Immerhin werden von hier rund 400.000 Autos ins Ausland verschifft. Doch wie lange noch, angesichts der hohen Zölle?
Gäste der ersten und zweiten Klasse trafen sich nie
Am Amerikahafen ist noch der alte Glanz der Stadt sichtbar. Draußen weht ein rauer Wind, im Kuppelsaal wartet bereits Horst Koperschmidt, der durch die bewegte Geschichte der Auswanderer führt. Der groß gewachsene Mann mit rotem Schal und feiner norddeutscher Färbung in der Sprache erzählt in den Hapaghallen am Steubenhöft, wie es dazu kam, dass gerade Cuxhaven so zentral für die Auswanderer wurde. An diesem kalten Samstag sind zwölf Interessierte gekommen. Im Jahr mache das etwa 4000 bis 5000 Besucher, die er und seine Kollegen durch die Ausstellungsräume lotsen.

Die Hamburg-Amerika-Linie (Hapag) hatte ihren Hauptsitz in Hamburg. Der größte Konkurrent war damals noch nicht mit ihr fusioniert und agierte aus Bremen – der Norddeutsche Lloyd. Lange Zeit transportierte die Hapag vor allem Pakete über den Atlantik. 1889 verlegte sie ihren Liniendienst nach New York vom Hamburger Hafen ins beschauliche Cuxhaven, das damals noch zu Hamburg gehörte. Hinter der Entscheidung stand ein junger Passagierdirektor, der bald die größte Reederei der Welt führen sollte: Albert Ballin.
Cuxhaven lag strategisch direkt an der Nordsee. Durch den Bau des Amerikahafens sparte sich die Hapag die sogenannte Revierfahrt über die Elbe. Stattdessen wurden die Passagiere der ersten und zweiten Klasse mit Sonderzügen bis an den Hafen gebracht – allerdings nicht zur gleichen Zeit. Gäste der ersten, zweiten und dritten Klasse waren „hermetisch voneinander abgeriegelt“, erzählt Koperschmidt. Sie begegneten sich weder beim Warten auf das Schiff noch während der Überfahrt. Entsprechend schmuckvoll waren die Räume je nach Budget eingerichtet.

Das erste Hapag-Schiff „Deutschland“ war mit seinen 42 Metern im Vergleich zu späteren Schiffen eine „Nussschale“, sagt Koperschmidt. 220 Personen konnten mitreisen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden die Schiffe größer, luxuriöser und schneller. Der Kaiser persönlich kam 1891 zu Besuch, um sich die „Augusta Victoria“ anzusehen. Das „Cuxhavener Tageblatt“ berichtete damals, der Kaiser habe sich über die vielen Spiegel an Bord amüsiert und die seiner Ansicht nach zu niedrigen Salons kritisiert. Er habe aber auch gesagt: „Sie sehen, meine Herren, wir können in Deutschland Schiffe bauen!“ Die „Imperator“, der Stolz der deutschen Schifffahrt, war größer als die Titanic, die 1912 unterging.
Bis Amerika seinen Kurs gegen Einwanderer verschärfte
Der Geschäftsmann Ballin sah sich mit dem wachsenden Schiffspark jedoch vor einem Problem: Im Winterhalbjahr wurde der Linienverkehr nach Amerika kaum genutzt. Die Schiffe kosteten, statt Geld einzubringen. Ballin hatte eine neue Idee: 1891 verließ aus Cuxhaven das erste Kreuzfahrtschiff überhaupt den Hafen – über Southampton, Lissabon, Gibraltar bis nach Alexandria, Jaffa, Beirut und Konstantinopel. Schon die erste „Lustreise in den Orient“ war ausgebucht, nur für Gäste der ersten Klasse – ein Treffen des „Who’s Who“ des Kaiserreichs, wie Koperschmidt sagt. „Die Namen dieser Leute kennt man heute aber nicht mehr.“

Mit dem Ersten Weltkrieg war der große Traum zunächst geplatzt; die Schiffe verkehrten nicht mehr auf dem großen Teich. Die Hapag musste durch die Auflagen des Versailler Vertrags den größten Teil ihrer Schiffe abgeben. Anschließend charterte sie diejenigen Schiffe, die zuvor in ihrem Besitz gewesen waren. Doch an die goldenen Zeiten vor dem Krieg kam das Unternehmen nicht mehr heran.
Hinzu kam, dass die USA auf Abschottung – besonders gegenüber Europa – setzten und eine verschärfte Einwanderungspolitik einführten, die der Kongress 1921 erlassen hatte. Verantwortlich für diesen Kurs war der Republikaner Warren Harding, der seinen Wählern eine „Rückkehr zur Normalität“ versprach. Der Unternehmer gewann mit großem Vorsprung die Wahl. Er schien die alten amerikanischen Werte zu verkörpern und hatte schon im Wahlkampf dafür geworben, dass der Staat die wirtschaftliche Entwicklung der Nation nicht behindern sollte. Lange blieb er nicht im Amt. Eine Korruptionsaffäre holte ihn schließlich auf einer Alaska-Reise ein, auf der er 1923 im Amt starb.

Für deutsche Einwanderer änderte sich mit dem Tod des Präsidenten wenig – ganz im Gegenteil: Die USA verschärften 1924 und abermals 1929 ihren Kurs. Da war Donald Trumps Großvater Friedrich Trump, gelernter Friseur aus Kallstadt in der Pfalz, schon Jahrzehnte im Land. Er war 1885 als 16-Jähriger über Bremerhaven eingewandert. Washington bevorzugte nun Einwanderer aus Britannien, Irland, Skandinavien und Deutschland, insbesondere „Angelsachsen“ und Personen „nordischer Abstammung“. Kleinere Kontingente gab es für Europäer aus dem östlichen und südlichen Europa.
Asiaten durften nicht mehr einwandern, und für Deutschland war die Zahl auf jährlich 51.227 Einwanderer begrenzt. Vorher hatte es keine Höchstgrenzen gegeben. Hunderttausende, die von Amerika kurz Ellis Island sahen, wurden zurück nach Europa geschickt. Unterlagen der amerikanischen Einwanderungsbehörde zufolge begingen bis 1954 etwa 3000 Abgelehnte Suizid, erzählt der Cuxhavener Koperschmidt.
Heute wollen viele das Land verlassen
Die Auswanderung sei über Jahrzehnte ein „Riesengeschäft“ gewesen. Deutschland war selbst vor Irland oder Großbritannien Migrationsweltmeister. Eine Auswandererdatenbank auf der Internetseite des Fördervereins gibt Einblicke, wer und mit welchen Berufen das Land verließ. Die Datenbank ist jedoch nur ein kleines Puzzleteil. „Viele Deutsche meldeten sich damals nicht ab“, sagt Koperschmidt. Er schätzt, dass nur ein Viertel der Fälle aus dem Landkreis dokumentiert ist. In der Datenbank werden zudem nur die Auswanderer aus dem Landkreis Cuxhaven erfasst.

Vom Kuppelsaal geht es weiter durch das historische Passagierterminal. Hier wurde das Gepäck aufgegeben und angenommen. Den Gang entlang gelangt man schließlich bis ans Wasser. „Das Schiff war unverzichtbar“, sagt Horst Koperschmidt schließlich, als wären die alten Zeiten in Cuxhaven noch nicht vergangen. Für die Stadt am Wattenmeer sind sie das. Das Rennen um den Passagierverkehr gaben die Reedereien 1969 in Cuxhaven beziehungsweise 1970 in Bremerhaven auf. „Komfort und Service an Bord der Schiffe konnten keinen Ausgleich für den Zeitgewinn bieten, den die Flugzeuge des Luftverkehrs ermöglichten“, so Koperschmidt. Auch in anderen europäischen Häfen wurde der Linienverkehr etwa zur gleichen Zeit eingestellt. Hinzu kam, dass in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der Bevölkerungsdruck abnahm.
Die Bewunderung und Sehnsucht nach den USA, „Land der Freien, Heimat der Tapferen“, sollte erst viel später verschwinden – mit einem Präsidenten, dessen Großeltern einst nach Amerika einwanderten. Heute wollen viele Menschen seinetwegen die USA verlassen. Und selbst Touristen machen einen großen Bogen um das Land.
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